Toten-Messe
Nun liegen ihre Leiber halb verscharrt,
geborsten und verwittert tief im Sand.
Verworren züngelt Haar, hoch wächst die Hand,
greift in die Nacht, die auf den Zinnen harrt.
Verkohlte Städte schwelen lang vorbei,
und Brücken flattern schief und ausgezackt.
Die Sonne stürzt, schäumender Katarakt,
auf morsche Schädel, Augen fahl wie Blei.
Durch ihre Zähne pfeift ein süßer Wind,
der warm und rosig ist von frischem Blut.
(- In Abendröten weiden Lämmer gut. -)
Schon quellen sie verwesend aufwärts lind,
durchdringen, Freunde, sich mit ihrem Duft,
umarmen sich in lächelnder Spirale.
Die kühlen Sterne sind mit einem Male
ganz nah und kreisen singend durch die Luft.
Im Rauch verbrannter Zimmer nisten sie sich ein.
Sie fahren aufgelöst durch Ozeane.
Erkennen unten Schiffe, zitternd klein:
sie, des Planeten großgewölbte Fahne.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Toten-Messe“ von Walter Rheiner beschreibt auf eindrucksvolle Weise das Bild des Todes und des Verfalls, wobei es verschiedene Aspekte des menschlichen Daseins und der Vergänglichkeit thematisiert. Zu Beginn wird das Bild von „halb verscharrten“ und „geborstene[n]“ Leibern eingeführt, die im Sand liegen, was den endgültigen, unausweichlichen Charakter des Todes verdeutlicht. Das verworrene Haar und die „hoch wachsende Hand“, die in die Nacht greifen, symbolisieren den letzten Versuch, sich von der Dunkelheit zu befreien, oder die verzweifelte Suche nach etwas, das das Ende abwenden könnte.
In der zweiten Strophe wird das Bild einer zerstörten Welt weitergeführt: „verkohlte Städte“, „schiefe Brücken“ und die „Sonne“, die wie ein „Katarakt“ auf „morsche Schädel“ stürzt. Diese Bilder der Zerstörung und des Verfalls verdeutlichen die Brutalität und Unaufhaltsamkeit des Verfalls – sowohl in der Natur als auch im menschlichen Leben. Die „fahlen Augen“ und die dunklen, „verblassten“ Bilder erinnern an das Verblassen der Lebensenergie, das Ende des Lichts und die vollständige Zerstörung der einst lebendigen Welt.
Der Wind, der durch die Zähne der Toten pfeift und der mit „frischem Blut“ rosig und süß erscheint, könnte eine doppelte Bedeutung tragen. Einerseits könnte der „frische“ Wind auf das Leben anspielen, das noch in die Toten einströmt, andererseits symbolisiert der „süße Wind“ den letzten, beinahe paradiesischen Moment der Wiedergeburt oder der Verschmelzung mit der Natur. Die Vorstellung, dass die Toten „verwesen“ und sich dann miteinander vermischen, schafft das Bild eines zyklischen Prozesses von Leben und Tod, bei dem sich die Lebensenergie in eine andere Form verwandelt.
Am Ende des Gedichts werden die Toten als Teil des Universums dargestellt, das sich „durchdringt“ und die „kühlen Sterne“ umarmt. Dies stellt eine Verbindung zwischen den Sterbenden und dem kosmischen Ganzen her. Die Toten sind nicht einfach in der Erde vergraben, sondern sie sind Teil eines größeren, unendlichen Zyklus, der in den „Ozeanen“ und auf den „Schiffen“ sichtbar wird. Das Bild der „großgewölbten Fahne“ des Planeten verweist auf die ständige, sich wiederholende Bewegung und den ewigen Kreislauf des Lebens und des Todes. Das Gedicht bringt die Vorstellung eines „letzten Tanzes“ mit dem Universum zum Ausdruck, der sowohl erschreckend als auch befreiend ist.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.