Morgen
Da das Herz im Schlaf erzittert,
Lunge schwebt empor.
Licht erstrahlt durch Wimpern-Gitter.
Aufgedreht der Raum! Ein Chor
Klarer Stimmen. Pyramide.
Gläsern, Saite, klingt das Ohr.
In das Wirrsal land ich wieder.
Träne netzt den Mund.
Wolken schlingen sich im Liede.
Schläfe Mosaik. Wie bunt
Rieselt Himmel! Nebeldach
Schwärmt näher, und
Ein vergeßner Ätherbach
Badet süß das Haupt.
Du Verstoßner, Mensch! erwach:
– Innige Heimat, Heimat Schlafes, trunkne Heimat Dir geraubt!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Morgen“ von Walter Rheiner beschreibt die Übergänge zwischen Schlaf und Erwachen, wobei eine fast surrealistische Atmosphäre entsteht, die den Zustand der Bewusstwerdung nach der Nacht thematisiert. Zu Beginn wird das „Herz im Schlaf erzittert“ und die „Lunge schwebt empor“, was die Zerbrechlichkeit und gleichzeitig die Erhebung des Körpers im Übergang von der Stille des Schlafs zum Erwachen verdeutlicht. Das Bild des Lichts, das „durch Wimpern-Gitter“ erstrahlt, stellt die zarte Schwelle zwischen Traumwelt und Realität dar. Der Raum wird als „aufgedreht“ beschrieben, was auf eine plötzliche, fast überwältigende Wahrnehmung des Tages und der äußeren Welt hinweist.
Der „Chor klarer Stimmen“ und das „Gläsern, Saite“ betonen eine akustische Sensibilität, die in den Morgenstunden besonders intensiv wahrgenommen wird. Diese Klänge vermitteln eine Klarheit und Frische, die dem erwachenden Bewusstsein innewohnt, aber zugleich auch eine gewisse Künstlichkeit oder Überwältigung des neuen Tages widerspiegeln. Die Pyramide, ein Symbol der Stabilität und vielleicht auch der Ordnung, wird eingeführt und unterstreicht die Bewegung des Gedichts von der Unruhe der Nacht hin zur klareren, wenn auch chaotischen, Struktur des Morgens.
In der zweiten Strophe des Gedichts wird die Rückkehr in die „Wirrsal“ des Alltags beschrieben. Der Sprecher landet wieder „in das Wirrsal“, was den Kontrast zwischen der Klarheit des Erwachens und der Komplexität des Lebens zeigt. Die Träne, die den Mund „netzt“, könnte auf den bittersüßen Charakter des Erwachens hinweisen, das mit einem Gefühl des Verlusts oder der Unvollständigkeit verbunden ist. Die „Wolken“ und das „Lied“ stellen eine poetische Verbindung zwischen der inneren und äußeren Welt dar, wobei der Himmel, der in der darauffolgenden Zeile als „bunt“ rieselt, eine dynamische und zugleich ungreifbare Kraft ist.
Das Bild der „Schläfe Mosaik“ und des „Nebeldachs“ schwärmt näher, was die Fragilität und die Vielschichtigkeit des Gedankenflusses beim Erwachen beschreibt. Es wird ein Bild des Nebels gezeichnet, der als das Symbol für das noch nicht vollständig klärende, fast magische Moment des Morgens dient. Der „vergeßne Ätherbach“, der das „Haupt badet“, verweist auf eine frühere, vergessene Quelle des Wohlbefindens, die durch den Schlaf und das Erwachen wieder ins Bewusstsein tritt – ein mystischer, aber auch träumerischer Zustand.
Das Gedicht endet mit einem starken emotionalen Aufruf: „Du Verstoßner, Mensch! erwach!“ Der Sprecher spricht den Menschen als „Verstoßner“ an, was auf die Entfremdung und das verlorene Gefühl von Heimat hinweist. Die „innige Heimat“ des Schlafes wird als eine Form von Geborgenheit und Ruhe dargestellt, die dem Menschen „geraubt“ wurde. Dieser Verlust verweist auf die Nostalgie und das Sehnen nach einer vertrauten, sicheren Existenz – die Heimat im Schlaf ist ein Zustand des Friedens und der Verlorenheit, der im realen Leben nicht mehr zu finden ist. Das Gedicht stellt somit den Schmerz des Erwachens und die Unvollständigkeit des menschlichen Lebens in den Vordergrund.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.