Das Haus
Berg der Kammern. Woher wuchsest du Maden-Leib?
Aus Nacht gekittet, in den Tag gemauert,
der, dich umjohlt, Höhlung wunderlichen Getiers:
Fuchsbau, Schlangennest, Maulwurfhügel, Raubtierkäfig!
Was geschiehet in deinem Geripp, da der Treppen Brand
aufflackert gegen das lastende Dach, das die Himmel verbaut?
Was hinter den Fenstern, da in den kalten Ecken
Sonnenlicht, trüber Schein, sich verkriecht und stirbt?
Welche Wesen bevölkern dich? Welche Motten umschwirren
die giftigen Lampen? Welche Schreie tönen? Welche Tat
wird getan? Wer stirbt? Wer wird geboren? Wer flucht?
Wer stöhnt? Wer jammert? Wer lacht? Wer träumt?
– Ungeheuer! Kreißender Fels. Modernd Skelett. Arme
gereckt in der Nacht. Verschlungne Körper im Schlaf.
Prügel. Kuß. Hunger. Krank. Gesang und Gold.
Mord und Raub. Menschen. Der Gott geht um!
Gespenster. Mutter und Vater. Trauernder Sohn.
Wirre Tochter. – Kinder in Tapeten vergehend.
Stinkend Gedärm: Aborte. Schmieriges Bett.
Gäste. Lärm. Tabakqualm, ölige Speisen.
Vater-Unser. Gebet. Schleichen in der Nacht.
Räudiger Hund an der Tür. Klingel. Schlurfen.
Begrüßung. Geschäfte. Auf und ab -: zuckendes Hirn!
Hundert, die gehn und kommen. Der Arzt. Der Tod.
Haus: röchelnder Lindwurm. Gefängnis. Wald
aus mürben Brettern. Knarrendes Knochen-Tier.
Gähnender Rachen. Schnappendes Maul. Zottige Tatzen.
Haus: Klumpen Mensch. Turm böser Winde. Hölle.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Das Haus“ von Walter Rheiner zeichnet ein düsteres, fast kafkaeskes Bild eines Hauses, das mehr als nur ein Gebäude ist – es wird zu einem Symbol für das Leben selbst, mit all seinen Widersprüchen, Abgründen und Qualen. Zu Beginn stellt das Gedicht das Haus als „Berg der Kammern“ dar, was es als massiven, unaufhörlich wachsenden Organismus beschreibt. Die „Maden-Leib“ und die „Höhlung“ deuten auf einen ungesunden, faulenden Körper hin, der gleichzeitig Schutz und Gefängnis ist – ein Ort, an dem das Leben in verschiedenen, teils bizarren Formen stattfindet.
Die Frage nach den „Wesen“, die das Haus bevölkern, stellt die Ungewissheit und das Chaos des Lebens dar. Verschiedene Szenen von Leben und Tod, von Geborenwerden und Sterben, von Lachen und Fluchen, von Angst und Freude, vermischen sich zu einem wilden, unkontrollierbaren Durcheinander. Das Bild der „giftigen Lampen“, „Schreien“, „Stöhnen“ und „Jammern“ verweist auf die dunklen und verworrenen Aspekte menschlicher Existenz, die in einem solchen Haus zusammenkommen. Die stetige Wiederholung der Frage „Wer?“ unterstreicht die Unbeständigkeit und das Unverständnis für das, was im Inneren des Hauses geschieht.
In der Mitte des Gedichts wird das Haus selbst zu einem monströsen, lebenden Wesen. Es wird mit den Metaphern des „kreißenden Felses“, des „modernden Skeletts“ und des „Knochentiers“ verglichen – allesamt Symbole für Zerfall und Verfall. Diese Bilder verweisen auf die körperlichen und emotionalen Auswüchse des menschlichen Lebens. Es gibt Gewalt („Prügel“), Liebe („Kuß“), Leid („Hunger“), Krankheit und Tod, was das Haus zu einem Spiegelbild der menschlichen Existenz macht. Es ist ein Ort des ständigen Kampfes zwischen Leben und Tod, Geborenwerden und Vergehen.
Die zweite Hälfte des Gedichts beschreibt die Unruhe und den Aufruhr, der im Haus herrscht. Es gibt kaum Ruhe: „Tabakqualm“, „Lärm“, „Begrüßung“, „Geschäfte“, der „Arzt“ und der „Tod“. Es ist ein Ort des ständigen Kommens und Gehens, wo jeder Raum ein Zeugnis für das chaotische und oft schmerzhafte Leben der darin Lebenden ist. Das „Vater-Unser“ und das „Gebet“ deuten darauf hin, dass trotz des Dunkels und der Verwirrung auch in diesem Haus religiöse Rituale und Versuche zur Erlösung existieren – aber diese scheinen die allgegenwärtige Dunkelheit nicht vertreiben zu können.
Abschließend wird das Haus als ein „Lindwurm“, ein „Gefängnis“ und „Hölle“ beschrieben, die endgültigen Symbole für die Repression und die unauflösbaren Konflikte im Leben der Bewohner. Es wird zu einem Ort, an dem das menschliche Leben in seiner ganzen Doppeldeutigkeit – als Quelle von Leid und zugleich von Hoffnung – gefangen ist. Die letzte Zeile, die das Haus als „Turm böser Winde“ und „Hölle“ bezeichnet, fasst diese düstere Vorstellung zusammen: Das Haus ist kein Ort der Ruhe oder des Trostes, sondern ein Symbol für die Stürme und das Unheil, das die Menschen in ihrem Leben immer wieder heimsucht.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.