Christus
Zu viele Christen sind gestorben,
Kein Christus stieg von des Kreuzes Not,
Ging durch die Felder, von Pestluft verdorben,
Lebte und siegte über den Tod.
Sie starben im Dunkel, das sie geboren
Aus dem verhassten Schoße der Lust:
Entfesselte Brut der bewusstlosen Toren,
Rückwärts gebohrt in die eigene Brust.
Der rächende Engel von Sodoms Stätte
Zuckte auf ihrem Sündenfall
Dumpfes Geschütz in der Bürger Bette.
Sie fuhren nieder zur Hölle alle.
Zweitausend Jahre nach seinem Namen:
Die Gemeinschaft der Heiligen ist verdammt.
Giftige Frucht aus der Feindschaft Samen
Hat die Mäuler der Irren entflammt.
In Mord und Hunger, Gewalt und Lüge,
Bekränzt mit dem Glorienschein des Rechts:
Kein Heiland, der die Augen aufschlüge,
Sohn Gottes, Erlöser des falschen Geschlechts.
Kein Heiland, der in der Schlacht als Seher,
Wo dreier Jahre Sonne noch scheint,
Ein Korn des Guten der Menschheit näher,
Eine Träne Schmerz und Hoffnung geweint.
Christus am Kreuz ist mit ihnen gefallen.
Sein Reich ist verloren. Sein Name entweiht.
Propheten Zions! Trompeten erschallen.
Sei, Mensch, zur Hilfe der Menschen bereit!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Christus“ von Walter Hasenclever ist eine düstere Anklage gegen die Menschheit und eine bittere Reflexion über die Wirkungslosigkeit christlicher Erlösungsversprechen angesichts von Gewalt, Krieg und moralischem Verfall. Bereits die ersten Zeilen machen klar, dass der Dichter keinen Trost im Glauben findet: „Kein Christus stieg von des Kreuzes Not“ – der erhoffte Erlöser bleibt aus, die Welt bleibt der „Pestluft“ und dem Tod ausgeliefert. Das Bild vom sterbenden Menschen in Dunkelheit, „aus dem verhassten Schoße der Lust“ geboren, betont die Perversion des Lebens durch Sünde und Unbewusstheit.
Das Gedicht steigert sich zu einer Abrechnung mit der Zivilisation selbst. Die „entfesselte Brut“ der „Torheit“ richtet sich gegen sich selbst, als ob die Menschheit ihr eigenes Verderben aktiv vorantreibt. Die biblische Anspielung auf „Sodoms Stätte“ und der „rächende Engel“ verweisen auf die Vorstellung einer untergehenden, verdorbenen Gesellschaft. Auch das Bild des Krieges wird deutlich: „Dumpfes Geschütz in der Bürger Bette“ zeigt, wie das Grauen des Krieges selbst das Private, das Zuhause, durchdringt.
Hasenclever zeigt eine Welt, in der der christliche Glaube nur noch Fassade ist. „Die Gemeinschaft der Heiligen ist verdammt“ – die Institution Kirche und das religiöse Heilsversprechen erscheinen als gescheitert angesichts von „Mord und Hunger, Gewalt und Lüge“. Besonders zynisch wirkt dabei die Bemerkung, dass all dies „bekränzt mit dem Glorienschein des Rechts“ geschieht – eine Kritik an der Selbstgerechtigkeit und Heuchelei von Machtstrukturen.
Im Schluss ruft das Gedicht nach einer neuen Haltung: Nicht der „Sohn Gottes“ wird die Menschheit retten, sondern der Mensch selbst muss sich zur Verantwortung bekennen. „Propheten Zions“ und „Trompeten“ deuten auf eine apokalyptische Wende hin, auf das Ende der alten Ordnung. Die letzte Aufforderung „Sei, Mensch, zur Hilfe der Menschen bereit!“ ersetzt das alte Heilsversprechen durch den Appell an eine menschliche, diesseitige Solidarität. Hasenclever verbindet hier expressionistische Endzeitstimmung mit einem ethischen Aufruf zur Selbstermächtigung und sozialen Verantwortung.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.