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Herbst

Von

1.

Schon ins Land der Pyramiden
Flohn die Störche übers Meer;
Schwalbenflug ist längst geschieden,
Auch die Lerche singt nicht mehr.

Seufzend in geheimer Klage
Streift der Wind das letzte Grün;
Und die süßen Sommertage,
Ach, sie sind dahin, dahin!

Nebel hat den Wald verschlungen,
Der dein stillstes Glück gesehn;
Ganz in Duft und Dämmerungen
Will die schöne Welt vergehn.

Nur noch einmal bricht die Sonne
Unaufhaltsam durch den Duft,
Und ein Strahl der alten Wonne
Rieselt über Tal und Kluft.

Und es leuchten Wald und Heide,
Dass man sicher glauben mag,
Hinter allem Winterleide
Lieg‘ ein ferner Frühlingstag.

2.

Die Sense rauscht, die Ähre fällt,
Die Tiere räumen scheu das Feld,
Der Mensch begehrt die ganze Welt.

3.

Und sind die Blumen abgeblüht,
So brecht der Äpfel goldne Bälle;
Hin ist die Zeit der Schwärmerei,
So schätzt nun endlich das Reelle!

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Gedicht: Herbst von Theodor Storm

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Herbst“ von Theodor Storm gliedert sich in drei deutlich unterscheidbare Teile, die gemeinsam ein vielschichtiges Bild des Übergangs von Sommer zu Herbst zeichnen – nicht nur in der Natur, sondern auch im menschlichen Empfinden. Es geht um Vergänglichkeit, Abschied, aber auch um Erkenntnis und Reifung. Dabei verbindet Storm stimmungsvolle Naturbeschreibung mit tiefer existenzieller Bedeutung.

Im ersten Abschnitt steht die herbstliche Melancholie im Vordergrund. Zugvögel wie Störche und Schwalben verlassen das Land, die Singvögel verstummen, und der Wind trägt die Klage über das Vergehen des Sommers durch das sterbende Grün. In dichten, atmosphärischen Bildern beschreibt Storm, wie sich die Natur in Nebel und Dämmerung auflöst – ein Sinnbild für das Verblassen einstiger Freude und Lebendigkeit. Doch inmitten dieser Wehmut bricht noch einmal „die Sonne / Unaufhaltsam durch den Duft“ – ein letztes Aufleuchten, das Hoffnung weckt: „Hinter allem Winterleide / Lieg‘ ein ferner Frühlingstag.“ Damit schlägt Storm eine Brücke zwischen Verfall und Verheißung.

Die zweite Strophe wirkt im Ton nüchterner und fast erschütternd knapp. In nur drei Zeilen wird ein Bild des Umbruchs gezeichnet: Die „Sense“ steht für den Tod oder die Ernte, die Ähre fällt, und die Tiere fliehen. Zugleich richtet sich der Blick auf den Menschen, der – im Gegensatz zur Natur – nicht einfach weicht oder sich fügt, sondern „die ganze Welt“ begehrt. Diese Zeile kann als Kritik an menschlicher Gier und Selbstüberschätzung gelesen werden, besonders in Zeiten des Wandels.

Die dritte Strophe rundet das Gedicht mit einem ironischen, beinahe lehrhaften Ton ab. Sie ruft dazu auf, nach dem Ende der Blütezeit – sinnbildlich für Jugend, Romantik oder Illusion – das „Reelle“ zu schätzen. Die „goldnen Bälle“ der Äpfel stehen für greifbare, sinnliche, vielleicht auch irdische Früchte des Lebens, die es nun bewusst zu ernten gilt. Storm verweist hier auf einen Reifungsprozess: Die Zeit der Träumerei ist vorbei, nun gilt es, sich dem Wirklichen zuzuwenden.

Insgesamt verwebt das Gedicht Naturbeobachtung, persönliche Empfindung und gesellschaftliche Reflexion. Der Herbst wird nicht nur als Jahreszeit, sondern auch als Lebensabschnitt und Bewusstseinswandel dargestellt – melancholisch, realistisch, aber auch versöhnlich.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.