Abschied, Emotionen & Gefühle, Freiheit & Sehnsucht, Glaube & Spiritualität, Harmonie, Helden & Prinzessinnen, Jahreszeiten, Lachen, Leichtigkeit, Natur, Wälder & Bäume
Swenne ich schine
Swenne ich schine so muost du lühten,
swenne ich vlüsse, so muost du wuethen,
swen du süfzest, so zühest du min götlich herze in dich.
swenne du weinest na mir, so nim ich dich an den aren min;
swenne du aber minnest, so werden wir zwöi ein,
und wenne wir zwöi alsust eines sin, so mag da niemer geschehen scheiden,
mere ein wonenklich beiten wonet zwüschent uns beiden.
herre so beit ich denne mit hunger und mit durste,
mit jagen und mit luste,
vnz an die spilenden stunde
das us dinem götlichen munde
vliessen die erwelten wort,
die von nieman sin gehort,
mere von der sele alleine,
die sich von der erde entkleidet
und leit ir ore für dinen munt –
ja die begriffet der minne funt.
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Wann immer ich scheine, so musst du leuchten,
wann immer ich fließe, so musst du wild überströmen,
wann immer du seufzt, so ziehst du mein göttliches Herz in dich.
Wann immer du weinst nach mir, so nehme ich dich in meinen Arm;
wann immer du wieder liebst, so werden wir zwei eins,
und wann immer wir zwei so eins sind, so kann da nie mehr Trennung sein;
vielmehr wohnt ein freudiges Zurückhalten zwischen uns beiden.
Mein Herr! So halte ich mich denn zurück mit Hunger und mit Durst,
mit dem Umherjagen und mit dem Vergnügen,
bis an die Stunde, in der alles sich munter bewegt wie im Spiel,
in der aus deinem göttlichen Mund
fließen die erlesenen Worte,
die von niemanden gehört werden
als von der Seele allein,
die die Erde ablegt
und ihr Ohr vor deinem Mund legt –
ja, die begreift den Fundort der Liebe.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Swenne ich schine“ von Mechthild von Magdeburg ist eine tiefgründige Liebeserklärung, die von einer innigen Vereinigung und der Sehnsucht nach einem unauflöslichen Bund zwischen der Seele und Gott zeugt. Es ist ein Beispiel mystischer Lyrik, die durch ihre Bilder und die intensive Gefühlssprache die Einheit von Liebenden, sowie die Einheit von Seele und Gott beschreibt.
Das Gedicht bedient sich einer Reihe von Gegensätzen und Kontrasten, um die dynamische Natur der Liebe und die wechselseitige Abhängigkeit der Liebenden zu verdeutlichen. „Swenne ich schine so muost du lühten“ – wenn ich scheine, musst du leuchten – zeigt die gegenseitige Verstärkung, die in der Liebe stattfindet. Der Fluss, das Weinen und das Seufzen, alles sind Ausdruck intensiver Gefühle, die sich gegenseitig verstärken und zu einer tieferen Einheit führen. Diese Einheit wird durch die Worte „so werden wir zwöi ein“ verdeutlicht, was die Verschmelzung der Seelen und die Überwindung von Trennung impliziert. Der letzte Vers „ja die begriffet der minne funt“ unterstreicht die Bedeutung der Liebe als den wahren Schatz.
Die Bildsprache des Gedichts ist reich und sinnlich. Natürliche Elemente wie das Scheinen, das Fließen, das Weinen und das „Herze“ verstärken die emotionale Tiefe. Die Metapher vom „göttlichen Mund“ deutet auf die Inspiration und die erhabenen Worte Gottes hin, die die Seele nähren. Die Seele wird hier als aktiv handelnde Instanz dargestellt, die sich von der Welt löst, um der Stimme Gottes zu lauschen. Dies unterstreicht die mystische Dimension des Gedichts, in der die Vereinigung mit dem Göttlichen als höchste Form der Erfüllung und Liebe dargestellt wird. Die Verwendung von Begriffen wie „Hunger“ und „Durst“ symbolisiert die Sehnsucht nach Gott, die die Seele antreibt.
Die Struktur des Gedichts ist durch Wiederholungen und parallele Konstruktionen gekennzeichnet, die die Botschaft der wechselseitigen Verbundenheit verstärken. Die Verwendung von „swenne“ (wann immer) in den Anfangsversen und die anschließenden Konsequenzen schafft einen rhythmischen Fluss, der die Vereinigung der Seelen hervorhebt. Der Wechsel von Aktivität und Passivität, von Scheinen und Leuchten, von Geben und Empfangen, unterstreicht das dynamische Zusammenspiel der Liebenden. Dies alles kulminiert in der Beschreibung der ewigen Einheit, in der es kein Abschied mehr gibt, sondern ein „wonenklich beiten“, ein freudiges Verweilen in der Liebe.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.