Tagelied
Da nacht den neuen morgen noch umschattet
und dein gemach
(Ein sichres dach)
Noch lange freuden uns gestattet:
Was soll dein leises weinen
Und dein weher blick?
– Des glückes stunden meinen
Für mich ein missgeschick.
Es tröste dich mein schwur
Dass du auch fürder keusch mir bist
Und ich zu deinen füssen
Ergeben dich als engel nur
Beschauen will und grüssen –
Dein ganzer leib mir lieb und heilig ist –
An jedem glied
Mein haupt mit inbrunst hängt
Und mit gesenktem lid
So wie man Gott empfängt.
Und trenn ich mich für heut – für ferne fahrt:
Ich trage dich auf der brust verwahrt
Das seidentuch worauf dein name steht
Der mich wie ein gebet
Eh spiel und schlacht beginnen
Bestärkt und sieg mir bringt.
– O möchten dann nur meine tränen rinnen
Wann und des wächters horn zu scheiden zwingt.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Tagelied“ von Stefan George greift das mittelalterliche Motiv des Tagelieds auf, das den Abschied zweier Liebender bei Tagesanbruch thematisiert. Die Nacht wird hier als geschützte Zeit der Liebe dargestellt, während der nahende Morgen das Ende dieser glücklichen Stunden einläutet. Das lyrische Ich nimmt den Kummer der Geliebten wahr und erkennt darin die schmerzvolle Erkenntnis, dass für sie die gemeinsamen Stunden Glück bedeuten, während für ihn der Abschied eine unausweichliche Pflicht darstellt.
Besonders auffällig ist die idealisierte, fast sakrale Darstellung der Geliebten. Der Sprecher schwört ihr ewige Treue und schildert seine Hingabe mit religiöser Ehrfurcht. Ihr Körper wird nicht nur als Quelle der Liebe, sondern auch als etwas Heiliges empfunden – ein Motiv, das sich in der Verbindung von Liebe und Spiritualität zeigt. Diese Haltung mündet in ein demütiges Verhalten, das sich in der Geste des „gesenkten Lids“ ausdrückt, ähnlich dem Empfang einer göttlichen Offenbarung.
Im letzten Abschnitt wird deutlich, dass der Sprecher sich auf eine Reise oder eine Schlacht begeben muss. Die Erinnerung an die Geliebte wird durch ein seidenes Tuch mit ihrem Namen symbolisiert, das ihn wie ein Gebet begleiten und stärken soll. Die Trennung ist unvermeidlich, doch der Wunsch, seine Tränen erst dann zu vergießen, wenn das Horn des Wächters den Abschied endgültig macht, unterstreicht den inneren Kampf zwischen Pflichtbewusstsein und Liebesschmerz. Das Gedicht verwebt somit die Motive von Liebe, Treue und Trennung in einer lyrischen Reflexion über die Vergänglichkeit gemeinsamer Glücksmomente.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.