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Das Zeitgedicht

Von

Ihr meiner zeit genossen kanntet schon
Bemaasset schon und schaltet mich – ihr fehltet.
Als ihr in lärm und wüster gier des lebens
Mit plumpem tritt und rohem finger ranntet:
Da galt ich für den salbentrunknen prinzen
Der sanft geschaukelt seine takte zählte
In schlanker anmut oder kühler würde –
In blasser erdenferner festlichkeit.

Von einer ganzen jugend rauhen werken
Ihr rietet nichts von quälen durch den stürm
Nach höchstem first- von fährlich blutigen träumen.
‚Im bund noch diesen freund!‘ und nicht nur
lechzend
Nach tat war der empörer eingedrungen
Mit dolch und fackel in des feindes haus…
Ihr kundige las’t kein schauern – las’t kein lächeln –
Wart blind für was in dünnem schleier schlief.

Der pfeifer zog euch dann zum wunderberge
Mit schmeichelnden verliebten tönen – wies euch
So fremde schätze dass euch allgemach
Die weit verdross die unlängst man noch pries.
Nun da schon einige arkadisch säuseln
Und schmächtig prunken : greift er die fanfare –
Verlezt das morsche fleisch mit seinen Sporen
Und schmetternd führt er wieder ins gedräng.

Da greise dies als mannheit schielend loben
Erseufzt ihr: solche hoheit stieg herab!
Gesang verklärter wölken ward zum schrei!..
Ihr sehet Wechsel – doch ich tat das gleiche.
Und der heut eifernde posaune bläst
Und flüssig feuer schleudert weiss dass morgen
Leicht alle Schönheit kraft und grösse steigt
Aus eines knaben stillem flötenlied.

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Gedicht: Das Zeitgedicht von Stefan George

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Das Zeitgedicht“ von Stefan George reflektiert die Wahrnehmung und das Missverständnis seiner dichterischen Existenz durch seine Zeitgenossen. Der Sprecher beklagt, dass er von ihnen zunächst als entrückter Ästhet wahrgenommen wurde, während sie selbst in der Hast und Oberflächlichkeit des Lebens gefangen waren. Seine wahre künstlerische Entwicklung – geprägt von inneren Kämpfen, leidenschaftlicher Suche und rebellischem Geist – blieb ihnen verborgen.

George setzt sich mit dem Wandel künstlerischer Strömungen auseinander. Der „Pfeifer“, eine Art Verführer oder Wegweiser, lockt die Menschen zuerst mit sanften Klängen, bevor er zur Fanfare greift und eine schärfere, fordernde Stimme erhebt. Diese Metapher beschreibt den Wechsel von sanfter, harmonischer Kunst zu einer härteren, provozierenden Ausdrucksweise, die das „morsche Fleisch“ der alten Werte verletzt. Der Wechsel in der Kunst wird von Zeitgenossen oft missverstanden, da sie immer erst rückblickend erkennen, was sie zuvor ablehnten.

Im Schluss betont das Gedicht die zyklische Natur der Kunst: Der laute, revolutionäre Ausdruck von heute kann morgen in eine neue Stille münden, aus der wiederum Größe erwächst. George zeigt sich damit als Künstler, der nicht einem kurzfristigen Zeitgeist folgt, sondern in einer übergeordneten Kontinuität künstlerischer Entwicklung denkt. Das Gedicht ist eine tiefgehende Reflexion über die Missverständnisse zwischen Künstlern und ihrem Publikum sowie über den ständigen Wandel ästhetischer Ideale.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.