St. Jago in Chili
Bang ist der Tag, die Lüfte welk und trocken,
In allen Kirchen wogt′s von frommen Bittern
Um Regen – horch, was war das für ein Zittern?
Und wieder – wieder – alle Pulse stocken.
Die Erde bebt – ein Gott bewegt die Glocken –
Hinaus, hinaus! Von tausend Ungewittern
Erbebt es unter uns, die Mauern splittern,
Die Erde gähnt, es regnet Feuerflocken.
Und Sturz auf Sturz – auf aus den dumpfen Kammern
Zerborstner Kirchen, Kerker, Hospitäler
Stöhnt Hilferufen, Ächzen, Todesjammern.
Dort aber vor der Stadt durch Hain und Täler
Fliehn Frauen, die ihr lachend Kind umklammern,
Mit Schwarzen, die gerettet ihre Quäler.
Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „St. Jago in Chili“ von Hermann Lingg beschreibt eindrücklich und in expressiver Sprache die verheerenden Auswirkungen eines Erdbebens. Es zeichnet ein erschreckendes Bild der Zerstörung und des menschlichen Leids, das durch das Naturereignis ausgelöst wird. Die Verwendung von starken Bildern und emotionaler Sprache erzeugt beim Leser ein Gefühl der Beklemmung und des Grauens, wodurch die Katastrophe unmittelbar erfahrbar wird.
Das Gedicht beginnt mit einer Beschreibung der beklemmenden Atmosphäre, die dem Beben vorausgeht. Die „Bangheit“ des Tages, die „welken und trockenen“ Lüfte und die „frommen Bittern“ in den Kirchen, die um Regen beten, schaffen eine düstere Stimmung. Das wiederholte „Horch, was war das für ein Zittern?“ und die Aussage „alle Pulse stocken“ deutet bereits die bevorstehende Katastrophe an und erhöht die Spannung. Die Verwendung von Ausrufungen wie „Hinaus, hinaus!“ und die bildhafte Sprache der folgenden Verse verstärken diesen Eindruck und lassen das Ausmaß der Katastrophe erahnen.
Im zweiten Teil des Gedichts schildert Lingg die unmittelbaren Folgen des Erdbebens: das Beben der Erde, das Bersten der Mauern und das Erscheinen von „Feuerflocken“. Der Wechsel von der Beschreibung der Atmosphäre zur direkten Darstellung der Zerstörung erfolgt abrupt, was die Dramatik des Geschehens noch verstärkt. Die Verwendung von Bildern wie der „gähnenden Erde“ und dem „Regen von Feuerflocken“ deutet auf eine apokalyptische Zerstörung hin und unterstreicht die allgegenwärtige Bedrohung.
Das Gedicht endet mit der Darstellung der menschlichen Reaktion auf die Katastrophe. Die „Stöhne“, das „Ächzen“ und das „Todesjammern“ der Menschen, die aus den zerstörten Gebäuden fliehen, zeugen von unermesslichem Leid. Die abschließende Szene der Frauen, die ihre Kinder umklammern, und der „Schwarzen“, die ihre „Quäler“ retten, deutet auf eine Mischung aus Panik, Hoffnung und Solidarität inmitten der Zerstörung hin. Lingg verzichtet hier auf eine direkte Bewertung des Geschehens, sondern lässt die Bilder für sich sprechen und überlässt es dem Leser, sich sein eigenes Urteil zu bilden. Das Gedicht ist somit ein eindringliches Zeugnis menschlichen Leidens und der zerstörerischen Kraft der Natur.
Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.
Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.