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Morgenlied

Von

Prächtig steigt die Sonne wieder
Aus der Morgenröthe Zelt,
Tausend, tausend Jubellieder
Singt ihr die erwachte Welt,
Und der Blumen süßes Düften
Steigt ihr auf in reinen Lüften.

Seht! wie ihr die Heerden hüpfen,
Hört! wie ihr die Taube girrt;
Rascher scheint der Bach zu schlüpfen
Der durch frische Wiesen irrt,
Und die kleinen Sommer Müken
Tanzen ringelnd ihr Entzüken.

Traurig siz ich in der Fülle
Lauter Freude rings umher,
Schwermuthsvoller, ernst und stille
Bleibt mein Busen freudenleer.
Ach! die Purpurstralen weken
Mir des Todes bleiches Schreken.

Weh mir! daß ich durch die Chöre,
Durch das Lied, das Leben singt,
Laut des Todes Röcheln höre
Das aus jedem Odem dringt,
In den Weyhrauch reiner Lüfte
Mischt sich Duft der Todtengrüfte.

Blumen, die dem Aufgang blühen,
Welken, wenn der Mittag sinkt,
Und von Wangen, die ihm glühen,
Todes Schweis der Abend trinkt,
Leichen, Gräber ohne Zahlen
Wird sein lezter Grus bestralen.

Tauche deine goldnen Flügel,
Erden Licht! ins Schatten Meer,
Streu um unsre Todenhügel
Nacht das tiefste Dunkel her,
Bis in Edens Sonnenwälzen
Unsrer Gräber Fesseln schmelzen.

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Gedicht: Morgenlied von Sophie Albrecht

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Morgenlied“ von Sophie Albrecht entfaltet einen eindrucksvollen Kontrast zwischen der lebensbejahenden Natur des Morgens und der inneren Schwermut des lyrischen Ichs. Obwohl die äußere Welt im Glanz des Tages neu erwacht – die Sonne steigt „prächtig“ empor, Tiere und Pflanzen feiern den Neubeginn mit Gesang und Bewegung – bleibt das lyrische Ich von dieser Freude unberührt. Es nimmt das Naturerlebnis zwar wahr, doch bleibt innerlich distanziert und traurig.

Diese Spannung wird bereits in der zweiten Strophe verstärkt: Die Welt ist voller Bewegung, Klang und Duft – ein Fest des Lebens. Doch dem lyrischen Ich steht diese Fülle in scharfem Gegensatz zur eigenen inneren Leere gegenüber. Es sitzt „traurig in der Fülle / Lauter Freude rings umher“, was die existentielle Isolation betont. Besonders auffällig ist die frühe Wendung ins Dunkle: Die Sonne, die gemeinhin als Lebenssymbol gilt, weckt hier „des Todes bleiches Schrecken“.

In den folgenden Strophen wird der Widerspruch zwischen Lebensfreude und Todesahnung zum zentralen Motiv. Das lyrische Ich hört im Gesang des Lebens den „Röcheln“ des Todes mitklingen, der Tod erscheint nicht als fernes Ende, sondern als allgegenwärtige Wirklichkeit. Selbst die frische Morgenluft – normalerweise ein Symbol für Klarheit und Hoffnung – ist hier vom „Duft der Todtengrüfte“ durchzogen. So wird der Tod nicht nur als körperliches Ende, sondern als unentrinnbare Gegenwart empfunden.

Die Blumen, die im Morgenlicht blühen, vergehen mit dem Tag, ebenso wie Menschen, deren Schönheit im Angesicht des Todes vergänglich bleibt. Diese Bildsprache unterstreicht das Grundgefühl der Vergänglichkeit und das Bewusstsein des unausweichlichen Sterbens. Doch in der letzten Strophe schwingt ein vorsichtiger Hoffnungston mit: Die Nacht soll alles zudecken, bis eines Tages in „Edens Sonnenwälzen“ – einem Bild für das Paradies – die Fesseln der Gräber sich auflösen.

„Morgenlied“ ist somit kein traditionelles Lob des Tagesbeginns, sondern eine tiefgründige Meditation über die Allgegenwart des Todes – eingebettet in die Schönheit des Morgens. Sophie Albrecht schafft eine melancholische, fast romantische Todesstimmung, die nicht in Verzweiflung, sondern in einer leisen Hoffnung auf Erlösung mündet.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.