Sonett auf sich selbst
Aus Sturm und Traum auffahrend, wo ich saß,
in einen Spiegel blickt ich heut hinein
und wusste nicht von mir, und sah mit Pein
das Antlitz meines Feindes aus dem Glas
empor gesandt: von fleckiger Schatten Schein
die Lippe überwildert, schien etwas
dumpf hinzuknirschen zwischen Angst und Hass:
Ich sollt es sein; und möchte dies nicht sein!
Wir sind nicht, was wir sind; der Himmel, kaum
vom Meer zu kennen, schleift mit Dunst beschwert
und brütet Auswurf: aber gieße Traum
In deinen Becher; und mit Nordwind gärt
die wundervolle See, und wildem Schaum,
durch den das heilige Schiff mit Helden fährt.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Sonett auf sich selbst“ von Rudolf Borchardt reflektiert eine existenzielle Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und Selbstwahrnehmung. Der Dichter beschreibt einen Moment, in dem er in einen Spiegel blickt und sich selbst nicht erkennt. Das Bild im Spiegel zeigt ihm das Antlitz eines „Feindes“, was die Entfremdung und das Unbehagen gegenüber dem eigenen Selbst symbolisiert. Die „fleckige Schatten Schein“ und das „Hin-knirschen zwischen Angst und Hass“ verdeutlichen die innere Zerrissenheit und das unklare Gefühl der Identität.
Der zweite Teil des Gedichts stellt die Frage nach der wahren Natur des Menschen. „Wir sind nicht, was wir sind“ ist eine philosophische Reflexion, die auf die Unmöglichkeit hinweist, sich selbst vollständig zu begreifen oder zu definieren. Der Dichter sieht sich selbst nicht nur als ein Produkt des eigenen Bewusstseins, sondern auch als Ergebnis einer komplexen, von „Dunst“ und „Auswurf“ beeinflussten Welt. Das Bild des Himmels, der vom Meer „kaum zu kennen“ ist, spiegelt die Undurchdringlichkeit des eigenen Selbst wider, das weder klar noch fest umrissen ist.
Die dritte Strophe bringt eine Wendung, indem sie den Traum als Möglichkeit der Erneuerung und des Entkommens vorstellt. „Gieße Traum in deinen Becher“ ist ein Aufruf, der suggeriert, dass die Lösung für die Identitätskrise im Träumen und der Vorstellungskraft zu finden ist. Der „Nordwind“ und die „wundervolle See“ stehen als Symbole für Freiheit und Erneuerung, die den Dichter aus der selbstkritischen Haltung befreien könnten. Schließlich wird das Bild des „heiligen Schiffs mit Helden“ zu einem Symbol für eine ideale Reise oder ein höheres Ziel, das den Dichter über das irdische Dasein hinausführt.
Insgesamt vermittelt Borchardt in diesem Sonett eine tiefgehende Meditation über das Selbst und die Schwierigkeiten, die eigene Identität zu fassen. Die unaufgelöste Spannung zwischen Traum und Realität, zwischen Angst und Hoffnung, steht im Zentrum des Gedichts, das sowohl eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Wahrnehmung als auch eine Sehnsucht nach einer höheren, reineren Form des Seins zum Ausdruck bringt.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.