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Sestine der Sehnsucht

Von

Aus einem Fenster bog ich mich hinaus
auf Nacht und Gärten, wo kein Vogel singt;
ich fing den schweren Ton, der in mir schwingt
bei allem Wunder, das schön träumen macht;
bei mir war Nacht und über dir war Nacht,
mein Haus weiß jeden Stern von deinem Haus.

So schön wie schwere Träume ist mein Haus,
auf ewige Gärten legt es sich hinaus,
von grauem Mondlicht trunken und von Nacht
saugt es den Ton, den es sich selber singt,
und Büsche, die der Wind melodisch macht,
und Wind, der durch die finsteren Fenster schwingt.

Von dir den Ton, der durch den Wind hin schwingt,
mein Herz weiß ihn, und so weiß ihn mein Haus:
Was schwellen macht und was aufschreien macht,
schwirrt durch ihn hin und reißt mich so hinaus,
wie nichts hinreißen kann, was dunkel singt,
schluchzend und tief tief jubelnd durch die Nacht.

Also voll ist mein Haus von dir bei Nacht:
Mit Tanz von dir, der durch die Kammern schwingt
mit einer Geige, die sich lang aussingt –
auf die Nachtwiesen wirft mein schweres Haus
ausbrechende Musik von dir hinaus,
und weiß vom Morgen nicht, der schauern macht.

Nacht über Nacht! Und Dunkel, das sie macht!
So schlief mein Herz im runden Busch der Nacht!
So, sternedurstig, wagt es sich hinaus
und fasst sich nicht, und zittert noch, und schwingt
sich dunkel rufend vor dein fremdes Haus
und singt in allen Schall, der drinnen singt –

o um ein Lied, das sich in Worten singt!
Nur Melodie, die Seele zu sich macht,
Weinen und Lachen wandert durch Dein Haus!
Und wirft sich her, Antwort durch dunkle Nacht –
nichts als ein Flügel, der aufhebt und schwingt,
nichts als „Hinaus“! und „Hin!“ und nur „Hinaus!“

Süße, dies Lied will über sich hinaus,
ein Kind ist so, das sich die Angst fortsingt –
durch schwere Nacht verschollener Gärten schwingt
so tödliches Wirbeln, das die Luft stehen macht!
Ein wonniger Vogel singt in deine Nacht,
ein Kind fällt hin, und schläft vor deinem Haus.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Sestine der Sehnsucht von Rudolf Borchardt

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Sestine der Sehnsucht“ von Rudolf Borchardt ist ein komplexes, formal streng gebautes Werk, das tiefe emotionale Zustände in dichte, musikalisch strukturierte Sprache fasst. Die Sestine als Form – mit ihrem sich wiederholenden Endwort-Schema über sechs Strophen und eine abschließende Terzine – unterstützt die kreisende Bewegung von Sehnsucht, Erinnerung und innerem Drang nach Verbindung. Inhaltlich kreist das Gedicht um das Thema der unerfüllten Liebe, die sich in einem Spiel aus Nähe und Ferne, Klang und Stille, Tag und Nacht entfaltet.

Das lyrische Ich beschreibt eine nächtliche Szenerie, in der das eigene Haus und das Haus der Geliebten durch Klang, Erinnerung und Imagination miteinander verbunden sind. Die Nacht ist dabei nicht nur Hintergrund, sondern zentraler Seelenzustand – sie ist Raum für Träume, für Musik und für das innere Vibrieren eines Gefühls, das in Worten kaum fassbar ist. Immer wieder kehren Bilder von Wind, Musik, Tönen und Bewegung zurück – alles fließt, schwingt, sucht hinaus. Die Bewegung ist dabei nicht gerichtet, sondern oszillierend, wie das Auf und Ab von Wehmut und Hoffnung.

Die Musik wird zum Schlüsselmotiv: Sie ist Trägerin der Sehnsucht, Ausdruck des Inneren und Medium der Verbindung. Das lyrische Ich beschreibt sein Haus als „voll von dir bei Nacht“, erfüllt von Tanz und Geigenklang, der sich hinauswirft in die Dunkelheit. Die Musik artikuliert, was sprachlich kaum sagbar ist – ein tiefer Wunsch nach Nähe, nach Verschmelzung, nach Antwort. Diese Antwort bleibt jedoch vage, fragmentarisch, andeutend – der Kontakt zur geliebten Person bleibt imaginär.

Der Wechsel zwischen Selbstversenkung und Ausbruch, zwischen Innenraum und Draußen, zwischen Kindlichkeit und Todesahnung durchzieht das Gedicht bis zum Schluss. In der letzten Strophe wird das Motiv des Kindes eingeführt, das sich „die Angst fortsingt“ und schließlich erschöpft vor dem fremden Haus einschläft – ein starkes Bild für die entwaffnende Offenheit und Verletzlichkeit, die der Liebe innewohnt. Die Musik, das Singen, ist damit auch ein Akt des Trosts, der Selbstrettung und der letzten Hoffnung.

„Sestine der Sehnsucht“ ist ein Gedicht von großer formaler Raffinesse und emotionaler Tiefe. Es gibt der Sehnsucht eine Gestalt, die nicht auf unmittelbare Erfüllung zielt, sondern sich im ewigen Kreisen selbst erhält – als poetischer Ausdruck einer Liebe, die in der Musik, in der Nacht und in der Erinnerung weiterlebt.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.