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September-Sonette

Von

1.

Vom Tage nährt sich schon die Nacht verstohlen;
schlaflose Stürme laufen in den Gärten
und holen mich auf ihre blassen Fährten.
Ich binde mir die Flügel an die Sohlen

und bin hinaus – (doch träum ich wohl). Mich holen
in ihre Reigen andere Gefährten –
wo sah ich sie, die sich gleich Sternen mehrten
an heißen Abenden? – Ein Atemholen

und alles hin, wie Duft. Ich bin ganz wach
und weiß, ich geh, und sag: „Noch heute nur!“
Von Stunden ein verfließendes Gesind

schwebt tönend fort durch Kammer, Tor und Flur.
Ich spüre vom erhobenen Gemach
atmende Nacht und Bäume ohne Wind.

2.

Atmende Nacht und Bäume ohne Wind
verführen mich, an deinen Mund zu denken,
und dass die Pferde, mich hinweg zu lenken,
schon vor den Wagen angebunden sind;

Dass alles uns verließ, wie Wasser rinnt,
dass von dem Lieblichsten, was wir uns schenken,
nichts bleiben kann und weniges gedenken:
Blick, Lächeln, Hand und Wort und Angebind;

Und dass ich so einsam bekümmert liege,
und dir so fern, wie du mir fern geblieben –
die Silberdünste, die den Mond umflügeln,

Sind ihm so ferne nicht als ich dir fliege,
so ferne Morgenrot nicht Morgenhügeln,
als diese Lippen deinen, die sie lieben.

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Gedicht: September-Sonette von Rudolf Borchardt

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „September-Sonette“ von Rudolf Borchardt besteht aus zwei kunstvoll gearbeiteten Sonetten, die eine herbstliche, melancholische Stimmung einfangen und in zarter Sprache die Themen Vergänglichkeit, Erinnerung und unerfüllte Nähe verhandeln. Der „September“ dient dabei nicht nur als Jahreszeit, sondern als Symbol für den Übergang, das Abschiednehmen und das leise Verlöschen von Momenten und Gefühlen.

Im ersten Sonett steht das lyrische Ich im Zentrum einer bewegten, innerlich aufgewühlten Landschaft: Der Tag wird von der Nacht abgelöst, Stürme wehen durch die Gärten, und in dieser Atmosphäre der Veränderung macht sich das Ich auf einen inneren Weg. Die surreal anmutende Vorstellung, sich „Flügel an die Sohlen“ zu binden, verweist auf den Wunsch nach Entrückung oder Flucht, vielleicht auch auf einen Übergang ins Traumhafte. Erinnerungen steigen auf, schemenhafte Gefährten erscheinen, verschwinden aber wieder wie Duft – ein poetisches Bild für das Flüchtige der Vergangenheit. Der Gedanke „Noch heute nur!“ unterstreicht die Dringlichkeit und Vergänglichkeit des Moments.

Das zweite Sonett vertieft diese herbstlich-sehnsüchtige Grundstimmung und richtet sie auf eine konkrete, jedoch unerreichbare Du-Figur. Die „atmende Nacht und Bäume ohne Wind“ bilden den ruhigen Hintergrund für das Nachsinnen über eine vergangene oder unerfüllte Liebe. Die Vergänglichkeit des Erlebten wird betont: Alles entgleitet wie Wasser, selbst das Lieblichste bleibt nicht, und es bleibt nur eine Handvoll Erinnerungen. Der Abstand zur geliebten Person wird durch starke, fast kosmische Vergleiche unterstrichen – das lyrische Ich ist ihr ferner als der Mond seinen Nebeln oder das Morgenrot den Hügeln.

Formal greifen beide Sonette ineinander über – der Schlussvers des ersten („atmende Nacht und Bäume ohne Wind“) wird zum Anfang des zweiten. Diese Verbindung verstärkt den Eindruck eines inneren Kreislaufs, eines Denkens und Fühlens, das sich in der Dämmerung von Zeit, Traum und Realität verliert. Die Sprache ist getragen, hochmusikalisch, von klassischen Bildern und einem feinen Rhythmus durchzogen, was dem Gedicht eine fast zeitlose Schönheit verleiht.

„September-Sonette“ ist somit eine feinsinnige lyrische Meditation über Zeit, Verlust und die ungreifbare Nähe geliebter Menschen. Die herbstliche Stimmung wird zum Spiegel einer seelischen Bewegung, in der sich Vergangenheit, Gegenwart und Traum miteinander verschränken – leise, schwerelos und von einer tiefen, fast schmerzhaften Sehnsucht getragen.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.