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Melusinens Lied

Von

O, Guy von Lusignan,
ich seh dirs an, unglücklich willst du werden!
Was willst du, Mann,
du willst von mir, was ich nicht geben kann!

Ich fasse die Beschwerden,
die unheilbaren, nicht, davon du brennst…
nur die Gebärden
seh ich, sonst nichts, untröstlich Kind der Erden!

Ich bin, wie du mich kennst:
das lebt nicht hinter mir, wonach du lüstest:
Wenn du begännst
danach zu greifen, griffest du Gespenst!

Kein Weg, bei mir zu stehen,
ging tiefer als durch Wonnen Mund auf Mund –
ins Tiefre gehen
nur Stürze tauben Steins in meine Seen –

dass michs noch einmal triebe
zu dir! Da warst du froh und rot und rein:
nun bist du Stein, nun bist du weiß wie Lein,
weil du mich liebst -; und weil ich dich nicht liebe. –

O, Guy von Lusignan,
ich seh dirs an, du schluchzest in der Kehle!
Geh beichten, Mann!
Ich hab es nicht, was dich getrösten kann!

Gleich einem Meerjuwele
fischtest du mich zu dir, und ich gewann
dich frischen Brand in meinen kalten Bann –
mehr weiß ich nicht: was frommt, dass ich mich quäle?

O, Guy von Lusignan,
ich gebs je keinem, was ich von dir hehle!
Nur Mund und Leib will ich an jeden Mann
verschenken, dass er mir von dir erzähle!

Vielleicht, es spürts kein andrer, was mir fehle?
Ein Fischer nicht? Dein Jäger nicht im Tann —
o, Guy von Lusignan –
stirb nicht daran; ich habe keine Seele.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Melusinens Lied von Rudolf Borchardt

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Melusinens Lied“ von Rudolf Borchardt ist eine dramatisch-lyrische Monologszene, in der die mythische Figur Melusine einem Mann – Guy von Lusignan – eine bittere Wahrheit gesteht: ihre Unfähigkeit zur menschlichen Liebe. In scharfen, musikalisch gebauten Versen spricht eine Stimme, die zugleich faszinierend, kalt und mitleidig wirkt. Das Gedicht verwebt mittelalterliche Legende mit moderner Seelenanalyse und gestaltet den Mythos als tragische Konfrontation zwischen überirdischer Andersartigkeit und menschlicher Sehnsucht.

Melusine wendet sich an Guy, den sie einst an sich gezogen hat, doch nun zurückweist. Ihre Worte kreisen um das zentrale Motiv der Unvereinbarkeit: Er ist „Kind der Erden“, sie aber gehört einer anderen, tieferen Wirklichkeit an. Was Guy sucht – Liebe, Trost, Erfüllung –, kann sie nicht geben. Sie bleibt in sich verschlossen, ein Wesen des Wassers, ohne greifbare Vergangenheit, ohne Seele. Das Motiv der Undurchdringlichkeit wird bildhaft gefasst in der Vorstellung von „Stürzen tauben Steins in meine Seen“ – Versuche, zu ihr vorzudringen, verhallen nutzlos.

Stark ist auch das Spannungsverhältnis zwischen Körperlichkeit und Innerlichkeit. Melusine bietet ihren „Mund und Leib“ an – nicht als Akt der Liebe, sondern als Mittel, um sich selbst zu erinnern, um in fremden Erzählungen vielleicht doch etwas von Guy zu spüren. Diese radikale Trennung von Sinnlichkeit und Gefühl macht sie zu einer tragischen Figur: Sie ist nicht grausam, sondern leer, erkennt die Verzweiflung ihres Gegenübers, kann ihm aber dennoch nichts geben. Ihre letzte Aussage – „ich habe keine Seele“ – wirkt wie ein verzweifelter Abgesang auf das eigene Wesen.

Der mythologische Hintergrund – Melusine, die Wasserfrau, die nur unter bestimmten Bedingungen mit einem Menschen leben kann – wird hier psychologisch verdichtet. Das Gedicht verwandelt den alten Stoff in ein modernes Drama über Entfremdung, Einsamkeit und die Unfähigkeit zu emotionaler Bindung. Die Sprache bleibt dabei klangvoll, rhythmisch und von großer innerer Spannung getragen.

„Melusinens Lied“ ist eine eindringliche lyrische Szene über das Scheitern einer Liebe, die nie ganz möglich war. Es zeigt das tragische Missverhältnis zwischen menschlichem Verlangen und einer fremden, unerreichbaren Existenz – und gibt der Figur der Melusine eine Stimme von bestürzender Klarheit und melancholischer Distanz.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.