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Sonntagsfeier

Von

Was schwebt dort auf des Wohllauts Schwingen
Zu mir herüber durch die Luft?
Ich hör es rauschen, hör es klingen
In süßem morgentlichem Duft:
Das ist die Orgel, sind die Glocken
Und der Posaunen ernster Klang,
O horch, sie laden mich und locken
Zu einem längst entwöhnten Gang. –

Sieh, vor der Kirche, welch Gedränge!
Vom Staub des Werkeltages rein,
Drängt alt und jung, in bunter Menge
Sich in das Heiligtum hinein:
Und hier, im sonntäglichen Kleide,
Den Kranz im glattgestrichnen Haar,
Gesenkten Augs, doch Augenweide,
Der Jungfraun wunderholde Schar.

Sie gehen all mit leisen Schritten,
Erwägend ihres Herzens Not,
Sie wollen beten, wollen bitten
Um Haus und Hof und täglich Brot:
Daß sich die Krankheit endlich wende,
Daß auf dem Feld die Frucht gedeih
Und daß die Arbeit ihrer Hände
Mit gutem Zins gesegnet sei.

O Wahn des Glaubens, süße Stille,
In der das Herz sich selbst verlor,
Du meiner Kinderwelt Idylle,
Was steigst du heute mir empor?
Und würde mir die Welt zu eigen
Und neigten alle Sterne sich:
Ich könnte doch mein Knie nicht neigen,
Nicht deine Psalmen rühren mich! –

Denn andre Glocken hör ich tönen,
Ein andres Lied steigt himmelwärts,
Und anders strömt mit mächt’gem Dröhnen
Drommetenklang mir in das Herz!
Wir stehen auch gedrängt in Scharen,
Wir Männer, die der Tag erweckt;
Doch keinen Kranz in unsern Haaren,
Mit Myrten nur das Schwert bedeckt!

Wir glauben auch an einen Morgen,
An einen Sonntag hell und licht,
Der, blöden Augen noch verborgen,
Die Wolken endlich doch durchbricht!
Wir beten auch – unausgesprochen,
Ein Hauch, der unsre Brust durchweht,
Ein stummer Schwur, ein Herzenspochen,
Und eine Tat – das ist Gebet!

Drum sollt ihr uns nicht gottlos schmähen,
Nennt uns nicht Ketzer, treibt nicht Spott:
Auch hier, wo unsre Fahnen wehen,
Der freie Geist ist auch ein Gott!
Von allem Finstern, allem Bösen,
Von Sklavenketten groß und klein,
Er wird noch einmal uns erlösen,
Noch einmal unser Heiland sein.

Laßt denn geduldig, ohne Grollen,
Uns wandeln auf verschiednem Pfad:
Sei jeder nur getreu im Wollen,
Nur jeder männlich in der Tat!
Dann deinen Gläub’gen, deinen Frommen,
Mit Liederklang, mit Schwerterschlag,
Dann wirst auch du uns endlich kommen,
Du, unser Sonntag, Freiheitstag!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Sonntagsfeier von Robert Eduard Prutz

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Sonntagsfeier“ von Robert Eduard Prutz thematisiert den Gegensatz zwischen religiöser Tradition und einem neuen, säkularen Freiheitsglauben, der sich aus der politischen Aufbruchsstimmung des Vormärz speist. In einer kunstvoll aufgebauten, fast szenischen Darstellung kontrastiert Prutz die traditionelle, fromme Sonntagsandacht mit einer neuen, kämpferischen Art des Glaubens, die sich nicht im Gebet, sondern in Tat und Aufbruch äußert.

Die erste Hälfte des Gedichts beschreibt eine idyllisch-religiöse Szene: Glockenläuten, Orgelklang und der Duft des Morgens leiten die Menschen in die Kirche. Besonders eindrucksvoll ist die Darstellung der jungen Frauen, die demütig und hoffnungsvoll ihren Platz im Gotteshaus suchen. Der Sprecher erinnert sich an diese Bilder mit einer Mischung aus Wehmut und innerer Distanz – sie gehören seiner „Kinderwelt“ an, einer Zeit der Unschuld, die vergangen ist. Das poetische Ideal der religiösen Stille wird zwar anerkannt, aber nicht mehr empfunden: „Ich könnte doch mein Knie nicht neigen“.

Im zweiten Teil vollzieht sich ein Bruch. Statt in der Kirche versammeln sich die Männer nun auf dem politischen Schlachtfeld: Sie tragen keine Kränze, sondern Schwerter, sie beten nicht mit Worten, sondern mit Taten. Der neue „Glaube“ ist säkular und revolutionär – ein Glaube an den „Sonntag“ als Freiheitstag, an einen kommenden Morgen, der aus dem Kampf gegen Unterdrückung hervorgeht. Das Gebet verwandelt sich in „ein stummer Schwur, ein Herzenspochen, / Und eine Tat“.

Prutz spricht sich in diesem Gedicht nicht gegen Glauben im Allgemeinen aus, sondern plädiert für Toleranz gegenüber einem anderen Verständnis von Spiritualität und moralischem Handeln. Der „freie Geist“ wird als eine neue göttliche Kraft dargestellt, die die Menschen von „Sklavenketten“ erlösen soll. In dieser Perspektive wird der politische Kampf zur modernen Form des Glaubens, zur säkularen Heilslehre.

„Sonntagsfeier“ ist damit ein kraftvolles Bekenntnis zur geistigen und politischen Freiheit. Es ruft zu gegenseitiger Anerkennung unterschiedlicher Lebenswege auf – solange sie getragen sind von Aufrichtigkeit und Tatkraft. Der letzte Vers – „Du, unser Sonntag, Freiheitstag!“ – bringt die Hoffnung auf eine neue Zeit auf den Punkt: eine Welt, in der Glaube und Freiheit nicht mehr im Widerspruch stehen müssen.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.