Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , , ,

Die neue freie Zeit

Von

Nun freuet euch, ihr Frommen,
nun ist der Tag gekommen,
den ihr so lange erharrt:
Durch Beten und durch Glauben,
nun wird man rückwärts schrauben
die schnöde Gegenwart.

Trotz Widerspruch und Schnarchen,
die Zeit der Patriarchen,
schon kehrt sie uns zurück:
Modern sind wir gewesen,
nun werden wir Chinesen –
Chinesen, welch ein Glück!

O China, Reich der Sitte,
Reich der gerechten Mitte,
du Reich der Majestät:
Wo niemand braucht zu sorgen,
wo alles heut wie morgen,
in ew’gen Gleisen geht!

Dein Beispiel soll uns lehren,
zur Einfalt zu bekehren
das sündige Geschlecht:
Nun scheren wir die Köpfe,
nun salben wir die Zöpfe,
der dickste Zopf hat recht!

Nun müßt ihr schweigend sitzen
und auf die Nasenspitzen
in stiller Andacht sehn:
So wird die Menge preisend
und mit dem Finger weisend
euch demutvoll umstehn.

Nun gegen Strauß und Bauer,
nun baut man eine Mauer
rings um das Reich herum:
drauf stehn mit stolzen Mienen
die Herren Mandarinen
und nicken und – sind stumm.

Das Schreiben und das Sprechen
das gilt nun als Verbrechen,
denn nur der Kaiser spricht!
Nun, mächtiger und weiser
als unser Herr, der Kaiser,
ist selbst der Herrgott nicht.

Und will das Fleisch sich regen,
und fragen wir, weswegen?
O dann dem Kaiser Preis:
Dann kriegen wir als Kinder,
bald stärker, bald gelinder,
die Rute auf den Steiß.

So bilden wir mit Ehren
als ob wir’s selber wären,
den Mittelpunkt der Welt!
Was schert in unsrer Glorie,
was schert uns die Historie,
wenn’s nur zusammenhält?

Drum immer frisch geschoben,
gehoben und geschroben,
nach China frisch herum!
Doch wollt ihr’s recht vollenden,
o dann mit gnäd’gen Händen,
o gebt uns Opium!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Die neue freie Zeit von Robert Eduard Prutz

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die neue freie Zeit“ von Robert Eduard Prutz ist eine beißende Satire auf politische und gesellschaftliche Rückschritte, die unter dem Deckmantel von Religion, Ordnung und Tradition als Fortschritt verkauft werden. In ironischem Tonfall kritisiert Prutz eine restaurative Tendenz seiner Zeit, die nach Revolution und Aufklärung versucht, alte autoritäre Strukturen wiederherzustellen – dabei stellt er eine absurde Parallele zum „Reich der Mitte“, also zum imperialen China, her.

Bereits in der ersten Strophe wird deutlich, dass die vermeintlich ersehnte „freie Zeit“ nicht mit Freiheit im modernen Sinne zu tun hat, sondern vielmehr mit Rückkehr: Durch „Beten und Glauben“ wird die Gegenwart „rückwärts geschraubt“. Das religiöse und konservative Lager wird hier verspottet als rückwärtsgewandt und fortschrittsfeindlich. Der Begriff „Chinesen“ dient dabei nicht ethnisch, sondern allegorisch: China erscheint als Inbegriff eines starren, autoritären und traditionsverhafteten Staates – ein idealisiertes Zerrbild, das Prutz als Spiegel für die eigene Gesellschaft nutzt.

In den folgenden Strophen steigert sich das satirische Spiel: Die Gleichschaltung durch äußere Formen („Köpfe scheren“, „Zöpfe salben“), die Unterdrückung von Rede und Schrift sowie die Aufwertung des autoritären Kaisers werden mit überspitztem Lob bedacht. Besonders sarkastisch ist die Zeile „der dickste Zopf hat recht“ – eine metaphorische Abrechnung mit Borniertheit und geistiger Einengung. Ebenso wird die Zensur parodiert: Das Schweigen wird zur Tugend, Kritik zum Verbrechen, der „Kaiser“ zum gottgleichen Herrscher erhoben.

Auch die körperliche Disziplinierung wird thematisiert – die Rute für Fragende steht sinnbildlich für blinde Gehorsamserziehung. All dies wird mit „Ehre“ und „Glorie“ gefeiert, während Prutz gleichzeitig den völligen Verlust von Vernunft und historischer Reflexion bloßstellt. Die Menschen sollen sich selbst als „Mittelpunkt der Welt“ feiern – eine klare Anspielung auf die Selbstbezogenheit und Hybris autoritärer Systeme, die sich ihrer eigenen Absurdität nicht bewusst sind.

Das Gedicht endet mit einer besonders bitteren Pointe: Wenn schon Rückzug ins dumpfe Autoritäre, dann bitte auch die letzte Konsequenz – „gebt uns Opium!“ Der Wunsch nach geistiger Betäubung als letzte Flucht vor Verantwortung, Aufklärung und Wandel. Prutz greift damit ein weiteres Mal das Bild Chinas auf, das im 19. Jahrhundert oft mit dem Opiumhandel assoziiert wurde, und verkehrt es ins Absurde: Das Volk, das Freiheit mit Regression verwechselt, möchte am Ende auch noch den Rausch zur Belohnung.

„Die neue freie Zeit“ ist ein brillant gereimtes und rhythmisch lebendiges Gedicht, das mit beißendem Spott politische Reaktion, geistige Trägheit und blinden Konservatismus demaskiert. Hinter dem scheinbar humorvollen Ton steckt eine ernste Warnung: Wer sich rückwärts bewegt und dies für Fortschritt hält, riskiert die Freiheit, die Vernunft – und am Ende vielleicht auch sich selbst.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.