Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , ,

Fragment

Von

Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Siehe, wie klein dort,
siehe: die letzte Ortschaft der Worte, und höher,
aber wie klein auch, noch ein letztes
Gehöft von Gefühl. Erkennst du’s?

Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Steingrund
unter den Händen. Hier blüht wohl
einiges auf; aus stummem Absturz
blüht ein unwissendes Kraut singend hervor.

Aber der Wissende? Ach, der zu wissen begann
und schweigt nun, ausgesetzt auf den Bergen des Herzens.
Da geht wohl, heilen Bewusstseins,
manches umher, manches gesicherte Bergtier,

wechselt und weilt. Und der große geborgene Vogel
kreist um der Gipfel reine Verweigerung. – Aber
ungeborgen, hier auf den Bergen des Herzens…

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Fragment von Rainer Maria Rilke

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Fragment“ von Rainer Maria Rilke lässt sich als eine Reflexion über das innere Erleben und die Unvollständigkeit menschlicher Erfahrung deuten. Zu Beginn beschreibt der Sprecher einen Zustand der „Ausgesetztheit“ auf den „Bergen des Herzens“. Diese metaphorischen Berge repräsentieren möglicherweise den inneren Raum des Menschen, die tiefsten und unzugänglichen Winkel des Selbst. Die „letzte Ortschaft der Worte“ und das „letzte Gehöft von Gefühl“ stellen das Ende der sprachlichen und emotionalen Ausdrucksmöglichkeiten dar – ein Punkt, an dem Worte und Gefühle an ihre Grenzen stoßen. Diese Bilder erzeugen eine Atmosphäre von Verlassenheit und Isolation, als ob der Sprecher sich in einem abgelegenen, unerforschten Teil seines eigenen Herzens befindet.

Die „Bergen des Herzens“ sind auch ein Ort des Konflikts zwischen Wissen und Unwissenheit. Der „steingrund unter den Händen“ verweist auf die Unbeweglichkeit und den festen, unerreichbaren Boden dieser inneren Welt. Hier wächst „ein unwissendes Kraut“ hervor, das aus dem „stummen Absturz“ des Selbst entsteht. Dieses Kraut symbolisiert eine Form von Wachstum und Entfaltung, die nicht aus bewusster Anstrengung oder Wissen, sondern aus einem instinktiven, fast unbewussten Prozess hervorgeht. Das Bild des Krauts, das „singend“ hervorblüht, könnte darauf hinweisen, dass auch im Unwissen und im Schweigen etwas Schönes und Lebendiges entsteht, das nicht erklärt oder vollständig verstanden werden kann.

Der „Wissende“, der „zu wissen begann und schweigt nun“, stellt eine weitere Dimension des inneren Erlebens dar. Dieser Wissende könnte für die Erkenntnis oder das Streben nach Wahrheit stehen, das schließlich zum Schweigen führt. Der Wissende, der „ausgesetzt auf den Bergen des Herzens“ ist, hat das Wissen über das Leben und sich selbst erreicht, aber dieses Wissen führt zu einer Art innerer Isolation, einer Zurückgezogenheit. Der „heilen Bewusstseins“ geht etwas umher, was darauf hinweist, dass es in diesem Zustand des Wissens eine ständige Bewegung gibt, eine dynamische Auseinandersetzung mit der eigenen Innenwelt. Gleichzeitig bleibt der „große geborgene Vogel“, der um die Gipfel „reine Verweigerung“ kreist, ein Symbol für die endgültige Ablehnung des Verstehens oder des endgültigen Wissens. Der Vogel, der die Gipfel umkreist, repräsentiert die Freiheit von allem, was festgelegt und begrenzt ist – eine Ungebundenheit, die das endgültige Ziel des Wissens oder der Erkenntnis darstellt, aber auch die Verweigerung der letzten Gewissheit.

Das Gedicht endet in einer offenen, unvollständigen Weise mit der Aussage „ungeborgen, hier auf den Bergen des Herzens“. Diese ungeborgene Existenz könnte die zentrale Botschaft des Gedichts sein: der Mensch ist immer in einem Zustand der Unvollständigkeit und des Suchens, selbst wenn er sich mit Wissen und Erkenntnis beschäftigt. Rilke zeigt, dass die Reise zu den tiefsten Bereichen des Herzens sowohl von einer unermesslichen Einsamkeit als auch von einer kontinuierlichen Entfaltung geprägt ist, die niemals ganz abgeschlossen wird. Das Fragmentarische und Unvollständige ist dabei der zentrale Aspekt der menschlichen Erfahrung, die stets zwischen Wissen und Unwissen, zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein, zwischen Geborgenheit und Ausgesetztheit schwankt.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.