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Der Schauende

Von

Ich sehe den Bäumen die Stürme an,
die aus laugewordenen Tagen
an meine ängstlichen Fenster schlagen,
und höre die Fernen Dinge sagen,
die ich nicht ohne Freund ertragen,
nicht ohne Schwester lieben kann.

Da geht der Sturm, ein Umgestalter,
geht durch den Wald und durch die Zeit,
und alles ist wie ohne Alter:
die Landschaft, wie ein Vers im Psalter,
ist Ernst und Wucht und Ewigkeit.

Wie ist das Mein, womit wir ringen,
was mit uns ringt, wie ist das groß,
ließen wir, ähnlicher den Dingen,
uns so vom großen Sturm bezwingen, –
wir würden weit und namenlos.

Was wir besiegen, ist das Kleine,
und der Erfolg selbst macht uns klein.
Das Ewige und Ungemeine
will nicht von uns gebogen sein.
Das ist der Engel, der den Ringern
des Alten Testaments erschien:
wenn seiner Widersacher Sehnen
im Kampfe sich metallen dehnen,
fühlt er sie unter seinen Fingern
wie Saiten tiefer Melodien.

Wen dieser Engel überwand,
welcher so oft auf Kampf verzichtet,
der geht gerecht und aufgerichtet
und groß aus jener harten Hand,
die sich, wie formend, an ihn schmiegte.
Die Siege laden ihn nicht ein.
Sein Wachstum ist: der Tiefbesiegte
von immer Größerem zu sein.

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Gedicht: Der Schauende von Rainer Maria Rilke

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der Schauende“ von Rainer Maria Rilke thematisiert die existenzielle Auseinandersetzung des Menschen mit dem Übermächtigen, dem Unverfügbaren und dem Göttlichen. In eindringlichen Bildern beschreibt Rilke den seelischen und geistigen Kampf, in dem wahres Wachstum nicht durch Sieg, sondern durch Hingabe und Niederlage gegenüber dem „Größeren“ geschieht. Die Natur, insbesondere der Sturm, dient dabei als Spiegel und Symbol dieses inneren Geschehens.

Der erste Teil des Gedichts zeichnet ein Bild der Einsamkeit und des Ausgesetztseins: Der Sprecher nimmt in den Bäumen die bevorstehenden Stürme wahr, die „an seine ängstlichen Fenster schlagen“. Es ist ein Bild der Bedrohung, aber auch der Ankündigung eines notwendigen Umbruchs. Das Bedürfnis nach Nähe, nach einem „Freund“ oder einer „Schwester“, zeigt die existenzielle Verletzlichkeit des Einzelnen inmitten einer gewaltigen, überpersönlichen Welt.

Der Sturm selbst wird dann zum „Umgestalter“, der Zeit und Raum verändert und alles in eine zeitlose Dimension erhebt – die Landschaft wird „wie ein Vers im Psalter“, heilig und ewig. Dies führt zur zentralen Wendung des Gedichts: Das Eigentliche ist nicht das, was wir „besiegen“, sondern das, was uns übersteigt. Nur im Sich-Einlassen auf das Große, das nicht mit Namen, Begriffen oder Erfolgen zu fassen ist, kann der Mensch wahrhaft wachsen – nicht durch Beherrschung, sondern durch Hingabe.

Besonders eindrucksvoll ist das Bild des Engels, das Rilke aus dem Alten Testament übernimmt. Der Engel, der mit Jakob rang, steht hier sinnbildlich für eine übermenschliche Kraft, gegen die zu kämpfen eine Form spiritueller Reifung ist. Der Kampf wird nicht als etwas Aggressives, sondern als etwas Gestaltendes verstanden: Der Engel „schmiegt“ sich an seinen Widersacher „wie formend“, der körperliche Widerstand wird zur geistigen Transformation.

Am Ende wird klar: Der wahre Mensch ist nicht der Sieger, sondern der, der vom „immer Größeren“ besiegt wird. In dieser Paradoxie liegt Rilkes spirituelle Botschaft: Nur wer sich der Tiefe und Größe des Lebens aussetzt, ohne sie zu beherrschen zu wollen, erfährt eine wahrhafte innere Aufrichtung. Das Gedicht ist somit ein Plädoyer für Demut, Tiefe und eine stille Form von Größe, die im Verzicht auf Macht und Kontrolle liegt.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.