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Raffael (5)

Von

Nenn′ ich euch wohl den Tempel der Kunst? So erscheint die Geschichte:
Meinen Tempel hab′ ich, spricht sie, hierin mir erbaut.
Aber die Philosophie eröffnet die Schule der Weisheit,
Zeigt mit erhabenem Stolz ihre Gewaltigen vor.
Zeig′ ich Apoll′ euch nicht und die Musen im Chore der Dichter,
Spricht die Dichtkunst, ist nicht mein hier der größte Triumph?
Nein, antwortet die Religion, mein tiefstes Geheimniß
Und mein Heiligthum ist hier euch vors Auge gestellt.
Oeffn′ ich den Himmel euch nicht, und zeig′ euch den Vater im Glanze
Seines Thrones, den Sohn nicht und den heiligen Geist?
Unser ist dieser Raum, will die Kirche, was hier wir und drüben
Lösen und binden, du siehst′s, hier ist mein mächtigstes Reich.
Da ertönt′s von Stimmen, es naht die Menschheit, ich habe
Mein lebendigstes euch, meinen Charakter, enthüllt.
Nehmt denn alle Besitz, für all′ ist Platz in dem Tempel;
Mir gehört nur der Schmerz seiner Vergänglichkeit an.

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Gedicht: Raffael (5) von Wilhelm Friedrich Waiblinger

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Raffael (5)“ von Wilhelm Friedrich Waiblinger ist eine Reflexion über die Kunst und ihre Beziehung zu verschiedenen menschlichen Disziplinen und Erfahrungen, insbesondere zur Geschichte, Philosophie, Dichtkunst, Religion und Menschlichkeit. Der Autor verwendet die Perspektive des Betrachters oder eines fiktiven Erzählers, der die verschiedenen Ansprüche und Leistungen der genannten Bereiche betrachtet und bewertet. Das Gedicht ist dialogisch aufgebaut, wobei jede „Entität“ – Geschichte, Philosophie, Dichtkunst, Religion und schließlich die Menschheit – ihren eigenen Anspruch auf den „Tempel der Kunst“ erhebt.

Das Gedicht beginnt mit der Frage, ob die Kunst als Tempel bezeichnet werden kann, und leitet dann über zu den Ansprüchen der einzelnen Bereiche. Die Geschichte beansprucht den Tempel als ihren eigenen, die Philosophie weist auf ihre „Gewaltigen“ hin, die Dichtkunst auf Apoll und die Musen. Die Religion erhebt Anspruch auf die „tiefsten Geheimnisse“ und das „Heiligthum“, indem sie den Himmel und die göttliche Triade (Vater, Sohn und Heiliger Geist) präsentiert. Diese verschiedenen Ansprüche spiegeln die unterschiedlichen Wege wider, wie die menschliche Erfahrung durch Kunst erfasst und interpretiert werden kann. Waiblinger verwebt hier ein komplexes Netz von Ansprüchen, die das Wesen des Kunstschaffens aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten.

Der Wendepunkt des Gedichts kommt, als die Menschheit ihren Anspruch erhebt. Sie stellt nicht nur einen weiteren Bereich dar, sondern bietet einen grundlegenden neuen Ansatz. Die Menschheit beansprucht, „mein lebendigstes euch, meinen Charakter, enthüllt“ zu haben, und verkündet, dass „alle“ in diesem Tempel Platz finden. Diese Aussage verdeutlicht, dass die Menschheit als Ganzes, mit ihren Erfahrungen, Freuden und Leiden, letztendlich den Kern der Kunst ausmacht. Der Erzähler versteht dies und betont, dass sein einziger Besitz „der Schmerz seiner Vergänglichkeit“ ist. Dies deutet an, dass die Kunst, und insbesondere das Wissen um die menschliche Erfahrung, letztlich vergänglich ist, doch der Schmerz ist das, was bleibt.

Waiblingers Gedicht endet mit einer Synthese. Während verschiedene Disziplinen in Konkurrenz treten, um den „Tempel der Kunst“ zu beherrschen, wird deutlich, dass die Kunst letztendlich die Menschheit selbst widerspiegelt und umfasst. Der Autor scheint zu suggerieren, dass die wahre Schönheit und Bedeutung der Kunst nicht in der exklusiven Darstellung einzelner Bereiche liegt, sondern in der Erfassung der Gesamtheit der menschlichen Erfahrung. Die Kunst dient somit als Spiegel der Menschheit, in dem sich alle ihre Facetten, von den höchsten Idealen bis zu den tiefsten Schmerzen, widerspiegeln. Die Vergänglichkeit des Kunstwerks selbst wird als Ausdruck der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens anerkannt.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.