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Raffael (1)

Von

Es giebt Seelen, doch wen′ge, die, reiner als andre, vom Urquell
Sich, vom unendlichen Grund alles Lebend′gen, gelöst.
Jedes Räthsel der Welt es scheint in ihnen gefunden,
Jeglicher Widerstreit hold und entzückend versöhnt.
Nimmer trübt sich in ihnen die übernatürliche Klarheit,
Und doch sind sie wohl nie sich ihrer Allmacht bewußt.

Keines Zweifels erzitternder Hauch regt die liebliche Tiefe
Ihres Innern, es ruht stille der Himmel auf ihm.
Aehnlich sind sie dem Herrn, der die ungemessenen Kräfte
Seiner Natur oft im Bild blühender Rosen verhüllt.
Ja sie schaffen wie er! Nicht im Wirbel des Sturms, in des Frühlings
Sanft holdseliger Lust sproßt und erschließt sich der Keim,
Der sich zur Fülle der Frucht in frischer Gesundheit erschwellet.
Nur in der Zephire Wehn reift sie vollendet heran.
So ihr ruhiges Wirken. Wie all′ ihr Wesen nur Einheit,
Wie selbst die flüchtige Welt ihnen harmonisch erscheint,
So am geheimen Punkt, aus dem in vollkommenem Gleichmaaß
Sich der entwickelte Stoff rein und gesondert belebt,
So das erstehende Werk erfassen sie auch, und bescheiden
Zeigt es sich jeglichem Blick, aber es reizt nicht, es ist.
Nicht im üppig erquellenden Werden, im schmachtenden Welken,
Stellen sie′s eben wo′s ist, wo es entfaltet ist, dar.
Drum ist ihr Werk das Höchste: doch jene Schöpfung der Einheit
Nennet man schön, die Idee, die sie beseligend weckt,
Nennt man Schönheit, und so, o Raffael Sanzio, bist du
Der vollendetste mir, weil du der schönste mir bist.

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Gedicht: Raffael (1) von Wilhelm Friedrich Waiblinger

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Raffael (1)“ von Wilhelm Friedrich Waiblinger ist eine Hymne an den italienischen Renaissance-Maler Raffael Sanzio, in der er als Inbegriff vollkommener Schönheit und künstlerischer Meisterschaft gefeiert wird. Das Gedicht hebt die Reinheit, Klarheit und Harmonie hervor, die Waiblinger in Raffaels Kunst und Wesen erblickt. Es zeichnet das Bild eines Künstlers, der im Einklang mit der Natur und der göttlichen Ordnung steht.

Waiblinger beginnt mit einer Metapher für die Seele, die aus der Quelle des Lebens entspringt und sich von irdischen Zwängen löst. Raffaels Seele wird als besonders rein und erhaben dargestellt, frei von Zweifeln und im Einklang mit dem Kosmos. Er vergleicht Raffael mit Gott, der seine unermesslichen Kräfte in der Schönheit der Natur, wie zum Beispiel in den Rosen, verbirgt. Dies unterstreicht die göttliche Inspiration und die natürliche Harmonie, die Waiblinger in Raffaels Werk sieht. Die Verwendung von Begriffen wie „Urquell“, „unendlichen Grund“ und „übernatürliche Klarheit“ unterstreicht diese transzendentale Qualität.

Das Gedicht beschreibt den Schaffensprozess Raffaels als einen der sanften Reife, vergleichbar mit dem Wachstum einer Blume, die sich in der sanften Brise des Frühlings entfaltet. Diese Metapher betont die natürliche Anmut und die vollkommene Harmonie in Raffaels Kunst. Im Gegensatz zum stürmischen Werden und Vergehen, welches als unästhetisch wahrgenommen wird, zeigt Raffael die Dinge in ihrer vollendeten Gestalt. Waiblinger betont die Einheit und Harmonie in Raffaels Werk, die sich in der Einheit von Form und Inhalt, in der Reinheit der Darstellung und in der Fähigkeit, die Welt in ihrer vollkommenen Schönheit zu erfassen, manifestiert.

Das Gedicht gipfelt in der direkten Ansprache Raffaels. Waiblinger erklärt ihn zum Inbegriff der Vollkommenheit und Schönheit, weil er die Idee der Schönheit verkörpert. Die abschließenden Zeilen fassen das Gedicht zusammen und zeigen die tiefe Bewunderung des Dichters für Raffael. Die Schönheit wird nicht nur als ästhetisches Merkmal betrachtet, sondern als eine Quelle der Erleuchtung und des Glücks. In diesem Sinne ist Raffaels Kunst für Waiblinger ein Fenster zur göttlichen Ordnung und ein Weg zur Erkenntnis des Schönen und Wahren.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.