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Quelle der Nymphe Egeria in Nemi

Von

Wär′s wahr, o Nymphe? hätte den Dichter wohl
Vielleicht des Felsquells Lieblichkeit nicht getäuscht,
Du wärst es, ewig fließend Wesen,
Das hier den Verghang hinuntermurmelt,

Du wärst, als Numa, deinen Pompil, der Tod
Zur Schattenwelt entführte, vor Schmerz und Weh
An dieses Hügels Felsenwurzel
Wärest vergangen in Thränenströmen?

Dein hätte sich die taurische Artemis
Erbarmt, dein jammernd Flehen geendet dir?
O dann, du Bergstrom, küss′ erfrischend,
Küsse mir, Nymphe, die heißen Lippen.

Aus Treue sterben! Schönster Gedanke du,
Aus unsern Tagen lange hinweggeflohn
Ins Reich der Dichtung, in die Zeiten,
Da ihn die Menschen von Göttern lernten.

Aus Treue sterben! Seliger Knabentraum,
Du Stolz des thatenglühenden Jünglinges,
Du überschwänglich Wort der Liebe,
Grausamer Spott des enttäuschten Pilgers!

Aus Treue sterben! Königsgeliebte du,
Mit Trauer deinem ewig lebend′gen Grab
Nah′ ich, dir eine Schuld bekennend:
Höre mich, Sterbende! Nimmer glaubt′ ich

An Menschentreue. Wie es so kam, es sei
Vergessen – aber Nymphe, wenn wahr, daß du
Gestorben für Pompil, so laß mich
Artemis hier für den Frevel büßen.

Ich will ja glauben, Göttliche, daß du treu
Dem Freund geblieben; denn von olympischem
Ursprung ist ja dein Herz: der Erde
Kinder nur hab′ ich nicht treu gefunden.

An deinem Felsen, einsamer alter Hain,
Hier, wo Orest einst mit Iphigenien
Der taur′schen Göttin Bild geflüchtet,
Schau′ ich hinab zum Dianenspiegel,

Und schau′ und fleh′ und weine, bis mich die Huld
Der Göttin einmal plötzlich zerfließen läßt,
Und ich für meinen Glauben sterbe: –
Treu sind die Himmlischen, nicht die Menschen.

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Gedicht: Quelle der Nymphe Egeria in Nemi von Wilhelm Friedrich Waiblinger

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Quelle der Nymphe Egeria in Nemi“ von Wilhelm Friedrich Waiblinger ist eine Reflexion über Treue, Verlust und die Kluft zwischen göttlicher und menschlicher Natur, eingebettet in eine romantische Landschaft. Es ist ein Dialog mit der mythischen Figur der Nymphe Egeria, die der Legende nach aus Trauer über den Tod ihres geliebten Königs Numa Pompilius in eine Quelle verwandelt wurde. Das Gedicht ist von einer tiefen Sehnsucht nach echter Treue durchdrungen, die in der menschlichen Welt jedoch vergebens gesucht wird.

Waiblinger stellt die Frage nach der Echtheit der Legende in den Mittelpunkt. Er fragt, ob die Nymphe wirklich aus Liebe gestorben ist und sich in eine Quelle verwandelt hat. Die Sehnsucht nach einem solchen Akt der Treue ist unverkennbar. Die ersten beiden Strophen beschreiben die romantische Landschaft und die Trauer der Nymphe, die das Herz des Dichters berührt. Der Dichter wünscht sich, dass er die erfrischenden Küsse der Quelle, also der Nymphe, empfangen könnte. Das Bild der Nymphe als Quelle wird als ergreifendes Symbol für die Sehnsucht nach Unsterblichkeit durch Liebe und Treue eingesetzt.

Das Gedicht entwickelt sich im weiteren Verlauf zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der menschlichen Treue. Der Dichter reflektiert über das Ideal des Sterbens aus Treue, das in der Welt der Dichtung und der Götter existiert, aber in der menschlichen Realität als unerreichbar erscheint. Die Zeilen „Grausamer Spott des enttäuschten Pilgers!“ unterstreichen die Desillusionierung des Dichters gegenüber der Treue der Menschen, die er als unglaubwürdig empfindet. Er gesteht offen, dass er nicht an die Treue der Menschen glaubt, und zieht eine klare Trennlinie zwischen der göttlichen und der menschlichen Sphäre.

Im Zentrum des Gedichts steht die Erkenntnis, dass die Götter treu sind, während die Menschen es nicht sind. Der Dichter sucht in der Natur, am Ort der Legende, nach Trost und Erlösung. Er hofft, von der Göttin Diana durch eine Art mystischen Tod erlöst zu werden, um für seinen Unglauben zu büßen und in die Treue der Götter einzutauchen. Das Gedicht ist ein resignierter Aufschrei nach einer Welt, in der Liebe und Treue keine Illusion sind, sondern eine gelebte Realität.

Insgesamt ist das Gedicht eine melancholische Reflexion über die Unerreichbarkeit idealer Werte in der menschlichen Welt, eingebettet in eine romantische Landschaft. Waiblinger nutzt die mythische Gestalt der Egeria als Folie, um seine eigene Enttäuschung und seine Sehnsucht nach Treue auszudrücken. Das Gedicht ist ein Bekenntnis zu einer Welt, in der die Götter treu sind, aber die Menschen versagen, und ein Plädoyer für das Verständnis des Leidens, das aus diesem Versagen erwächst.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.