Über ein Stündlein
Dulde, gedulde dich fein!
Über ein Stündlein
ist deine Kammer voll Sonne.
Über den First, wo die Glocken hangen,
ist schon lange der Schein gegangen,
ging in Türmers Fenster ein.
Wer am nächsten dem Sturm der Glocken,
einsam wohnt er, oft erschrocken,
doch am frühsten trifft ihn Sonnenschein.
Wer in tiefen Gassen gebaut,
Hütt‘ an Hüttlein lehnt sich traut,
Glocken haben ihn nie erschüttert,
Wetterstrahl ihn nie umzittert,
aber spät sein Morgen graut.
Höh‘ und Tiefe hat Lust und Leid.
Sag ihm ab, dem törigen Neid:
andrer Gram birgt andre Wonne.
Dulde, gedulde dich fein!
Über ein Stündlein
ist deine Kammer voll Sonne.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Über ein Stündlein“ von Paul Heyse vermittelt eine stille Botschaft der Geduld und des Trostes. Im Zentrum steht das Motiv der Hoffnung auf Licht und Besserung nach einer dunklen oder bedrückenden Zeit. Das lyrische Ich spricht in tröstender Weise: „Dulde, gedulde dich fein! / Über ein Stündlein / ist deine Kammer voll Sonne.“ Die Sonne steht hier sinnbildlich für das Kommen von Hoffnung, Wärme und Klarheit.
Heyse nutzt dabei den Kontrast zwischen Höhe und Tiefe. Der Türmer, der hoch oben nahe an den Glocken wohnt, lebt zwar einsam und oft erschrocken vom Sturm der Glocken, wird aber auch als Erster vom Sonnenlicht erreicht. Im Gegensatz dazu steht der Bewohner der „tiefen Gassen“, der geschützt vor Lärm und Unwettern ist, aber auch auf das Licht länger warten muss. Diese Gegenüberstellung von Höhe und Tiefe symbolisiert das Spannungsfeld zwischen Gefahr und Einsamkeit auf der einen, und Geborgenheit, aber auch Verzögerung auf der anderen Seite.
Das Gedicht ruft dazu auf, nicht neidisch auf andere zu blicken, da jede Lebenslage ihre eigene Mischung aus „Lust und Leid“ birgt. Heyse mahnt damit zu Gelassenheit und Akzeptanz der eigenen Situation, denn sowohl in der Höhe als auch in der Tiefe liegen besondere Prüfungen und Freuden. Die abschließende Wiederholung der Anfangszeile wirkt wie ein ruhiger Zuspruch, der Zuversicht schenkt.
Insgesamt verbindet „Über ein Stündlein“ philosophische Einsicht mit einer sanften, optimistischen Grundhaltung. Die klare, volksliedhafte Sprache und die regelmäßige Form verleihen dem Gedicht eine beruhigende Wirkung und machen es zu einer leisen Ermutigung, auf das Licht der kommenden Stunde zu vertrauen.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.