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Tiefer Brunnen

Von

Verschließ dich nur, du schöner Mund,
Verbirg dich, tiefes Herz, mit Fleiß:
Der Rechte kommt zur rechten Stund‘,
Der Mund und Herz zu lösen weiß.

Gedenk‘ ich dein, kommt mir zu Sinn
Die Sage von der alten Stadt.
Ein tiefer Brunnen lag darin,
Drauß keiner noch getrunken hatt‘.

Er war so tief, so wundertief,
Ließ man ein Becherlein hinab,
Der Faden viele Stunden lief
Und reichte doch den Grund nicht ab.

Da kam des Wegs ein Musikant,
Der sah den Brunn und trat herzu
Und nahm sein Geigenspiel zur Hand
Und spielt‘ ein Stück und sang dazu.

Und horch, da rauscht‘ es tief und voll
Und wogt‘ herauf und sprudelt‘ klar,
Und lieblich kühl Gewässer schwoll
Empor zum Rande wunderbar.

Der Spielmann trank nach Herzgelüst,
Da war gelöst der dunkle Bann.
Wer dich so zu ersingen wüßt‘,
Ach, wäre wohl ein sel’ger Mann!

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Gedicht: Tiefer Brunnen von Paul Heyse

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Tiefer Brunnen“ von Paul Heyse thematisiert das Warten auf den einen Menschen, der die verborgenen Gefühle und das verschlossene Herz des lyrischen Ichs zu befreien vermag. Gleich zu Beginn wird das Zurückhalten von Emotionen angesprochen: „Verschließ dich nur, du schöner Mund“ – eine bewusste Entscheidung, Herz und Mund nur dem „Rechten“ zu öffnen, der zur „rechten Stund‘“ erscheinen wird. Es klingt eine Mischung aus Selbstschutz und stiller Hoffnung an.

In der folgenden Strophe greift Heyse die Sage von einem tiefen Brunnen auf, der in einer alten Stadt liegt und aus dem bislang niemand trinken konnte. Dieser Brunnen dient als zentrales Symbol für das verschlossene Herz – unergründlich, tief und für alle anderen unzugänglich. Der Versuch, mit einem Becher Wasser zu schöpfen, bleibt vergeblich, was die Tiefe und Unerreichbarkeit noch verstärkt.

Der Musikant, der schließlich erscheint, bringt die Wende: Mit Musik und Gesang vermag er das Wasser im Brunnen zu lösen und hervorzurufen. Die Symbolik ist hier klar: Nicht äußere Anstrengung, sondern das richtige Gespür – im übertragenen Sinne das richtige Herz, die richtige Seele – vermag, das Innerste zu berühren und das Verborgene freizusetzen. Der Brunnen steht somit auch für die Sehnsucht nach der Person, die durch ihre innere Stimme das Herz des lyrischen Ichs öffnen könnte.

Am Ende bleibt das Gedicht offen und sehnsuchtsvoll: Der Wunsch, „so zu ersingen“ und damit den Bann zu brechen, wird mit einem „sel’ger Mann“ verknüpft – eine leise Melancholie schwingt mit, da der ersehnte Befreier noch aussteht. Heyse schafft es, in einfacher und bildhafter Sprache ein Motiv zu entfalten, das für die tiefe Sehnsucht nach echter Begegnung und dem Durchbrechen von innerer Einsamkeit steht.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.