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Novelle

Von

Sie kannten sich beide von Angesicht,
Sie sprachen sich nie und liebten sich nicht.
Er nahm ein Weib, das die Mutter ihm wählte,
Als sie sich mit einem Vetter vermählte.

Er war zufrieden mit seinem Los;
Sie wähnte sich recht in des Glückes Schoß.
Nur manchmal, zur Zeit der Fliederblüte,
Was wollte da knospen in ihrem Gemüte?

Und einst nach Jahren am dritten Ort
Da sagten sie sich das erste Wort,
Am selben Tische zum ersten Male –
Der Flieder duftet‘ herein zum Saale.

Was er sie gefragt, was sie ihm gesagt,
Es war nicht neu und war nicht gewagt;
Doch plötzlich, mitten im Plaudern und Scherzen,
Erschraken sie beide im tiefsten Herzen.

Sie hatten mit tödlichem Staunen erkannt,
Wie seltsam eins das andre verstand,
Auch das, was beiden im stillen Gemüte
Erwachte zur Zeit der Fliederblüte.

Sie sahen sich an einen Augenblick
Und sahn einen Abgrund von Mißgeschick,
Dann blickten sie weg, und beide verstummten,
So munter rings die Gespräche summten.

Drauf ging sie nach Haus mit dem eigenen Mann,
Er führte sein Weib, so schieden sie dann
Und sagten, sie würden sich glücklich schätzen,
Die werte Bekanntschaft fortzusetzen.

Doch wie er am andern Morgen erwacht,
Was hat ihn so bitter lachen gemacht?
Und wie sie auffuhr von ihrem Kissen,
Was hat sie so heimlich weinen müssen?

Sie haben sich niemals wiedergesehn,
Sie wußten sich klug aus dem Weg zu gehn.
Nur immer zur Zeit der Fliederblüte
Wie Spätfrost schauert’s durch ihr Gemüte.

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Gedicht: Novelle von Paul Heyse

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Novelle“ von Paul Heyse erzählt eine leise, melancholische Geschichte über verpasste Liebe und das Verdrängen innerer Regungen. Die beiden Hauptfiguren kennen sich „von Angesicht“, jedoch ohne eine tiefere Verbindung, da beide früh in gesellschaftlich arrangierte Ehen eingetreten sind und sich mit ihrem jeweiligen Schicksal zufrieden geben. Die Harmonie dieser äußeren Ordnung wird jedoch durch einen inneren Zweifel gestört, der besonders „zur Zeit der Fliederblüte“ in ihr aufkommt – der Flieder dient hier als Symbol für das Aufkeimen unerfüllter Gefühle und unerwarteter Sehnsüchte.

Der Wendepunkt der Geschichte liegt in dem zufälligen Zusammentreffen „nach Jahren am dritten Ort“. In diesem scheinbar harmlosen Gespräch erkennen beide plötzlich im „tödlichen Staunen“, dass sie sich auf einer tiefen emotionalen Ebene verstehen. Die plötzliche Einsicht, dass zwischen ihnen ein verborgenes Band existiert, das sie selbst lange verdrängt haben, erschüttert beide zutiefst. Heyse beschreibt diesen Moment als das Erkennen eines „Abgrunds von Mißgeschick“, da die gegenseitige Nähe für sie zu spät kommt.

Die gesellschaftliche Fassade wird jedoch gewahrt – äußerlich bleibt alles höflich und distanziert. Doch innerlich lösen sich Entsetzen und unterdrückte Gefühle, die in der Nacht in Form von „bitterem Lachen“ und „heimlichem Weinen“ zum Ausdruck kommen. Damit zeigt Heyse die Spannung zwischen gesellschaftlicher Anpassung und der Macht der unterdrückten Emotionen.

In der letzten Strophe zieht Heyse den Bogen zur Dauerhaftigkeit dieser inneren Regung: Obwohl die beiden sich „niemals wiedergesehn“ haben, bleibt die Erinnerung an diesen einen Augenblick lebendig und taucht jedes Jahr „zur Zeit der Fliederblüte“ wieder auf. Die Blütezeit wird zum Symbol eines nie gelebten Glücks, das wie ein „Spätfrost“ die Gemüter erschauern lässt. Das Gedicht thematisiert auf feinsinnige Weise die Tragik der verpassten Chancen und die bleibende Wirkung unausgesprochener Gefühle.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.