Du sagst, du liebst mich. Oh, ich danke dir!
Zwar kenn ich dieses Wort als Lüge nur,
Doch klingt es süß, wie liebliche Musik,
Und gerne glaubt man, was so lieblich klingt.
Ich will es glauben, und ich bitte dich:
Nimm diesen Glauben als Entgegnung an.
Mir selber will das Wort „Ich liebe dich“
Nicht mehr vom Herzen auf die Lippen gehn.
Dem Boden, der von mitleidlosem Fuß
Zerstampft ward, dem der Bosheit dürre Hand
Salz in die Furchen streute, wollen Rosen nicht
Entblühen, – blasse Nesseln bringt er nur.
So sieht mein Garten aus, – ein Nesselbeet.
Willst du ihn lieben? Wunder sind geschehn!
Die Liebe ist die beste Gärtnerin.
Paris, 16. Oktober 1900
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Paris, 16. Oktober 1900“ von Otto Julius Bierbaum ist eine melancholische Reflexion über die Unmöglichkeit der Liebe und die Desillusionierung, die aus vergangenen Enttäuschungen resultiert. Es offenbart die tiefe Verletzlichkeit der sprechenden Person, die sich der Wiederholung vergangener Muster bewusst ist und gleichzeitig nach einer Sehnsucht nach Trost und Zuneigung sucht.
Der erste Teil des Gedichts zeugt von einer gespaltenen Seele. Obwohl die sprechende Person die Liebeserklärung des Gegenübers als Lüge identifiziert, genießt sie die wohlklingende Natur des Wortes. Diese Ambivalenz zwischen Vertrautheit mit Enttäuschung und dem Wunsch nach Liebe wird durch die Bitte, den Glauben an diese Liebe als Gegenleistung zu akzeptieren, noch verstärkt. Die Unfähigkeit, selbst das Wort „Ich liebe dich“ auszusprechen, deutet auf eine tiefgreifende emotionale Blockade und die Angst vor erneuter Verletzung hin.
Im zweiten Teil wird ein eindringliches Bild der seelischen Verwüstung gezeichnet. Der zerstampfte Boden und die mit Salz bestreuten Furchen symbolisieren die durchlebten Schmerzen und das verletzte Herz. Die Metapher des unfruchtbaren Gartens, in dem keine Rosen, sondern nur blasse Nesseln gedeihen, verstärkt diesen Eindruck der Hoffnungslosigkeit und des emotionalen Stillstands. Dieser Garten steht für die Seele der sprechenden Person, die durch die erlittenen Verletzungen unfähig geworden ist, Liebe anzunehmen oder zu erwidern.
Die letzten beiden Verse enthalten einen Hauch von Hoffnung. Die Frage, ob das Gegenüber bereit ist, diesen „Nesselbeet“ zu lieben, deutet auf eine Sehnsucht nach Heilung und Erlösung hin. Die Zeile „Die Liebe ist die beste Gärtnerin“ bietet eine mögliche Lösung an. Indem die Liebe als Gärtnerin bezeichnet wird, wird die Vorstellung einer transformierenden Kraft suggeriert, die in der Lage ist, den verwüsteten Garten wieder in Blüte zu bringen und Heilung zu ermöglichen. Das Gedicht schwingt somit zwischen Verzweiflung und dem zarten Keim neuer Hoffnung.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.
