Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Das verwandelte Lied

Von

Mit meinem Lieb durchstrich ich deutschen Wald,
Und froher Rausch aus grünem Licht und Duft,
Aus Windes-Orgelklang und Bergesluft
Ergriff die freudeoffenen Herzen bald.
O Kuß in eines Walds geheimstem Grund!
Fern oben über Wipfeln rauscht die Welt
Und weiß es nicht, daß unten Mund auf Mund
Zwei Welt- und Selbstvergessene versinken!
Der Lippen Duft wie junges Tannengrün,
Und tief im trunken-stillen Blick ein Licht,
Das hoch herab von heiliger Wölbung fällt!
O sternendunkler Abgrund, ende nicht,
Und laß uns ewig deine Dämmrung trinken —

Doch ach – ein Eichhorn, tückisch, schadenfroh,
Zerbricht ein Reis – und bricht den Zauberbann.
Sie huscht davon – ein Strahl im nächtigen Tann! –
Und steht – und neigt das Haupt – ein Kuckuck ruft
Fern, märchenfern im Lande Irgendwo.
Und wir, mit Küssen, zählen: Eins – und zwei –
Und drei – und vier – schon schweigt er?
Weiter, Schuft!
Und er gehorcht! Nun fünf – und sechs – und sieben –
Und schüttet uns von Leben und von Lieben
Die Herzen voll so ohne Maß und Ziel,
Daß sie mich von sich stößt und ächzt: „Nun wird’s zu viel!“
Zuviel, zuviel der Lust! Das Herz thut weh
Von so viel Kraft und Glück, und könnt‘ ich schrei’n
Wie –

Still! Da fällt ein fremder Klang herein –
Von fern ertönt ein Horn – o je, o je!
Genießen müssen wir – da giebt es kein Entflieh’n –
Die Weise „Wenn die Schwalben heimwärts zieh’n“.
Nicht übel blies der gute, ferne Mann;
Doch wenn man nun einmal ein Lied nicht leiden kann –
Und seltsam: meinem Lieb ging’s ebenso:
Es war ein traurig Lied und stimmt‘ uns herzlich froh.
Gefühlvoll blies er sehr vom Abschiedsbangen –
Wir näselten und dudelten’s ihm nach
Wie zwei der Zucht zu früh entlaufne Rangen.
Und lachten, lachten – – und verstummten jach.
Denn uns entgegen kam am Stock gegangen
Ein Mensch – war’s noch ein Mensch?
War’s noch ein Geh’n?
Zu jedem Schritt mußt‘ er die Kraft erst sammeln;
Ein Tasten war sein Gang, ein banges Stammeln –
Nie hab‘ ich solch ein arm Gesicht geseh’n!
Und jeder Zug darin ein zuckend Müh’n:
„Nur diesen Sommer säh ich gern verblüh’n!“
Und aus den Augen – ach, aus diesen Augen,
Die sich mit langem Blick ins Hirn mir saugen,
Sprach mehr zu mir als Leiden, mehr als Leid:
Schrie bettelnd jener herzgrundtiefe Neid:
„Warum gebt ihr mir nichts von eurem Leben!
Ihr seid doch überreich und könntet gern mir geben,
Und drückt euch stumm vorbei -„

Als wir vorübergehen,
Berührt sein Stab den Saum von ihrem Kleide.

Wir schritten weiter, ohn‘ uns anzusehen.
Von selbst und heimlich flocht sich Hand in Hand,
Und ferngewandten Auges sah’n wir beide
Mit großem Blick ins dunkle Schicksalsland.

Willkommne Rast am birkenkühlen Hang –
Und wieder hallte herüber des Hornes Klang
Und klagte: „Ob ich dich einst wiederseh‘?“ –
Da ward uns beiden ums Herz zum Weinen weh.
Es war ein Lied – mocht’s viel, mocht’s wenig taugen –
Ein Lied war’s mit zwei sterbenden Menschenaugen.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Das verwandelte Lied von Otto Ernst

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Das verwandelte Lied“ von Otto Ernst schildert eine intensive Liebesszene in der Natur, die sich durch eine unerwartete Begegnung plötzlich wandelt. Es beginnt mit einem romantischen Spaziergang durch den Wald, der voller Glück, Leidenschaft und jugendlicher Unbeschwertheit ist. Die Natur wird als ein magischer, abgeschiedener Raum dargestellt, in dem das Liebespaar für einen Moment der Welt entrückt scheint.

Ein kleiner Zwischenfall – das Brechen eines Zweigs durch ein Eichhörnchen – unterbricht kurzzeitig die Stimmung, doch das Paar kehrt spielerisch zur Unbeschwertheit zurück. Ein Kuckucksruf wird in ein lustiges Zählspiel eingebunden, und schließlich erklingt ein Lied in der Ferne: „Wenn die Schwalben heimwärts zieh’n“. Dieses melancholische Abschiedslied löst beim Paar zunächst eine spöttische, übermütige Reaktion aus, bis eine Begegnung alles verändert.

Ein gebrechlicher, leidender Mann tritt auf, dessen Elend in starkem Kontrast zur Vitalität der Liebenden steht. Sein mühsamer Gang, sein ausgemergeltes Gesicht und der stumme Neid in seinen Augen lassen das Paar abrupt verstummen. Die ungefilterte Freude weicht einer tiefen Nachdenklichkeit. Besonders eindrucksvoll ist die Schlussszene: Das Paar geht weiter, ohne sich anzusehen, doch ihre Hände finden sich von selbst. Ihr Blick richtet sich nun nicht mehr auf das unbeschwerte Spiel, sondern auf das „dunkle Schicksalsland“ – die Erkenntnis der Vergänglichkeit und des unausweichlichen Leids im Leben. Das Lied, das zunächst als belanglose Melodie erschien, gewinnt durch diese Begegnung plötzlich eine tiefe, fast schmerzhafte Bedeutung.

Das Gedicht zeigt die fragile Grenze zwischen Glück und Leid, zwischen unbeschwerter Jugend und bitterer Vergänglichkeit. Es thematisiert, wie eine zufällige Begegnung die eigene Wahrnehmung verändern kann – ein Moment voller Lebensfreude wird durch das Bewusstsein menschlichen Leids auf eine tiefere Ebene gehoben. So wird das einst verspottete Lied zum Symbol für die Endlichkeit des Glücks und die Unausweichlichkeit des Abschieds.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.