Wenn der Abend uns bezwingt
Und die Klage in uns singt:
Fühlst der bangen Seele Flug,
Weißer Mädchen Atemzug.
Fremd ist Friede, fremd der Streit,
Wann entrinnen wir der Zeit?
Und kein Alter macht uns klug:
Fühlst der Seele Abendflug.
Wenn der Abend uns bezwingt
Und die Klage in uns singt:
Fühlst der bangen Seele Flug,
Weißer Mädchen Atemzug.
Fremd ist Friede, fremd der Streit,
Wann entrinnen wir der Zeit?
Und kein Alter macht uns klug:
Fühlst der Seele Abendflug.
Das Gedicht „Abend“ von Otfried Krzyzanowski beschreibt in knappen, aber kraftvollen Versen den emotionalen Zustand der Seele im Angesicht des Abends. Die ersten Zeilen vermitteln das Bild eines Abends, der nicht nur den Tag, sondern auch die innere Befindlichkeit der „Seele“ ergreift. Der Abend wird hier als etwas Überwältigendes dargestellt, das die Gefühle von Klage und Sehnsucht verstärkt. Der „Flug der Seele“ und der „Atemzug des Mädchens“ deuten auf eine tiefe, fast melancholische Verbindung zur vergänglichen Schönheit und dem nahenden Ende hin.
Die Fragen nach Frieden und Streit, und vor allem der Flucht vor der Zeit, thematisieren die Unaufhaltsamkeit des Lebens. Die Zeit entgleitet dem Menschen, und der Versuch, ihr zu entrinnen, erscheint vergeblich. Der „Abendflug der Seele“ kann hier als Symbol für den Übergang in eine andere Bewusstseinsform oder als Vorbereitung auf den inneren Frieden und die Versöhnung mit der Vergänglichkeit verstanden werden. Der Gedichtsträger scheint zu sagen, dass es keinen Zeitpunkt gibt, der uns vollkommen klug macht – eine Andeutung auf die Unfähigkeit, das Leben zu kontrollieren.
Die melancholische Grundstimmung wird durch die sparsame und ruhige Sprache verstärkt. Die Assoziationen zum Abend, der hier als melancholischer Moment dargestellt wird, vertiefen den Eindruck von Abschied und Übergang. Der Abend wird nicht nur als Zeit des Tages, sondern auch als Zeit der Reflexion und der letzten Erkenntnisse präsentiert. Der „Abendflug der Seele“ wird in seiner Unklarheit zu einem Bild für das unvermeidliche Loslassen und das Näherkommen an das Unbekannte.
Krzyzanowski schafft es, das Thema der Vergänglichkeit und der inneren Zerrissenheit in einfachen, aber tiefgehenden Worten zu fassen. Die Fragen, die in den Versen aufgeworfen werden, bleiben unbeantwortet, was die Unklarheit und die unerklärliche Sehnsucht nach etwas Unbestimmtem verstärkt. Das Gedicht lädt den Leser dazu ein, über die eigene Existenz, das Vergehen der Zeit und die Rolle des Menschen im größeren Ganzen nachzudenken.
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