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Die Vogelstraßen

Von

Vor vielen tausend Jahren auferbaut,
Ziehn hoch durch Luft die großen Vogelstraßen.
Den Erdball, wie ihn Ferndampf drunten blaut,
Ermaßen Flügel nur mit Himmelmaßen.

Sie sind verboten aller Menschenlast,
Verwehrt dem zwiegespaltnen Huf, der Klaue.
Kein Stäubchen lagert dort, kein Blatt vom Ast
Und, gibt es Gott, kein Haar von seiner Braue.

Von einer solchen Straße überbrückt,
Sahst du ums Haupt dir ihren Schatten stürzen.
Das Licht, das jemals unter ihr gerückt,
Sahst du erscheinen und zum Blitz sich kürzen.

Du hast die magische Figur befragt:
Als Donner schlug sie sich in träge Stücke!
Dein Magisches, dein Vogel-Leichtes jagt
Entlang die unsichtbare lange Brücke.

Des einen Endes Pfeiler steht in Frost,
Wo Moorpech quillt und Sumpfohreulen kreisen
Und Federschwänze klatschen, rot von Rost,
Entrafft der Flut voll aufgelöstem Eisen.

Des andern Endes Pfeiler hüllt Geschmeiß,
Zum Fraß gesellt, im Neide sich Gehilfe –
Doch dort ertönt ein Strom in seinem Fleiß,
Dort senkt die Vogelstraße sich zum Schilfe.

Nicht fern besteigt den klaren Bergvulkan
Ein Elefant, schaut einsam in den Krater.
Darüber sinnt der Himmel, aufgetan,
Sein Alter aus, und er weiß keinen Vater.

Und Bild um Bild erbangt nach einem Sinn
Ob Worten, die wir sonst im Sinne hatten.
Auch dies scheint Donnerrufen her und hin,
Dem Blitz vorweggenommen als sein Schatten.

Zu reisen, ist der Vögel Winterschlaf,
Der schwere Frösche, Schlangen oder Bären
Im Schwebetraume nur mitschwebend traf.
O dass wir alle Vogelseelen wären!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Die Vogelstraßen von Oskar Loerke

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Vogelstraßen“ von Oskar Loerke entfaltet eine visionäre, beinahe mythische Betrachtung des Vogelzugs als transzendente Bewegung jenseits menschlicher Reichweite. In einer lyrisch überhöhten Sprache und mit beeindruckender Bildgewalt beschreibt Loerke die Zugbahnen der Vögel als uralte, fast göttliche Pfade, die den Himmel durchmessen und in ihrer Reinheit und Erhabenheit unerreichbar bleiben.

Bereits in den ersten Strophen wird der Gegensatz zwischen menschlicher Begrenztheit und der Weite der „Vogelstraßen“ deutlich. Diese Luftwege existieren „seit vielen tausend Jahren“ und sind dem Menschen als Wesen der Schwerkraft und Last verwehrt. Sie sind frei von Staub, Tier und sogar göttlichem Berührungsrest – ein vollkommen entmaterialisierter Raum. Diese Reinheit steht sinnbildlich für eine höhere Ordnung, für etwas Urtümliches und Unantastbares, das jenseits der menschlichen Wirklichkeit existiert.

Die Bilder in den folgenden Strophen verknüpfen abstrakte Vorstellungen mit konkreten Naturerscheinungen. Der Schatten der Vogelstraße, der sich „ums Haupt“ stürzt, die „magische Figur“, die als Donner zerspringt – all das verweist auf eine Sphäre, die zwar wahrnehmbar, aber nicht greifbar ist. Die „unsichtbare lange Brücke“ wird zum Sinnbild einer transzendenten Verbindung zwischen zwei Polaritäten: Frost und Feuer, Moor und Strom, Erstarrung und Bewegung. Die Welt wird in Kontrasten aufgebaut, doch die Vogelstraßen überwinden diese, sie spannen sich darüber hinweg.

In der siebten Strophe erreicht das Gedicht eine fast kosmische Dimension. Der einsame Elefant, der in einen Vulkan blickt, steht stellvertretend für eine Kreatur, die ahnend das große Ganze erfassen will – doch über allem „sinnt der Himmel […] und er weiß keinen Vater“. Die Schöpfung erscheint vaterlos, vielleicht gottlos, doch die Vogelstraßen bleiben als Sinnträger bestehen, als Bewegung, die dem Chaos eine verborgene Ordnung entgegensetzt.

Das Gedicht endet mit einer Sehnsucht: Die Reise der Vögel wird als Schwebezustand beschrieben, als bewegter Traum, der anderen Kreaturen nur im Schlaf möglich ist. Der letzte Ausruf „O dass wir alle Vogelseelen wären!“ bringt den innersten Wunsch zum Ausdruck, Teil dieser Leichtigkeit, dieser erhabenen Bewegung zu sein – frei von irdischer Schwere, mit der Fähigkeit, zwischen den Welten zu wandern.

„Die Vogelstraßen“ ist ein hochkomplexes, symbolträchtiges Gedicht, das Naturbeobachtung, Metaphysik und Mythos auf einzigartige Weise verbindet. Es feiert die Vögel als Träger einer höheren Ordnung, die der Mensch nur erahnen, nicht aber erreichen kann – und verweist zugleich auf die tiefe Sehnsucht nach dieser verlorenen Verbindung zum Überirdischen.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.