Die Laubwolke
Beständig ist das leicht Verletzliche.
Lange hing die grüne Wolke über der Erde,
Wohin ging sie?
Im neuen Frühling schwebt sie wieder an
Und erfüllt ihren Ort
Zwischen Grund und Höhe.
Vom Winde gesteuert,
Vom Regen gedrängt,
Vom Licht gehoben,
Kehrt sie immer zurück
Und bleibt so viele Jahre.
Jedesmal in den herbstlichen Lichtern
Klagts aus ihr: ich sinke, warum ich?
Und lauter mit dem Sinn von Dichtern:
Es stürzt mich, ja, warum nicht mich?
Wird es dann Winter –
Im Himmel kriecht gekrümmtes Gestäbe,
Den einmal gewachsenen Abstand nicht ändernd,
Eins des andern vielleicht nicht gewahr,
Doch beisammen in gleicher Spreizung.
Zwischen Grund und Höhe,
Von der Säge des Gärtners unzerrissen,
Von der Axt des Fällers nicht getroffen,
Bleibt das Gesetz:
Beständig ist das leicht Verletzliche.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Die Laubwolke“ von Oskar Loerke reflektiert über die Vergänglichkeit, die dennoch Beständigkeit in scheinbar Verletzlichem birgt. Zu Beginn wird die „grüne Wolke“ beschrieben, die über der Erde schwebt und mit dem Frühling wiederkehrt. Diese Wolke steht symbolisch für die Natur, die im stetigen Zyklus von Wachstum und Verfall eingebunden ist. Der Wechsel zwischen Grund und Höhe könnte dabei die Wechselwirkung zwischen dem Irdischen und dem Himmlischen darstellen, wobei der Wind, Regen und Licht als Kräfte beschrieben werden, die die Wolke immer wieder in ihren natürlichen Kreislauf führen. Die Wolke kehrt zurück, bleibt aber „so viele Jahre“, was auf die beständige Wiederkehr von Naturzyklen hinweist.
Trotz dieser Beständigkeit zeigt sich in der zweiten Strophe eine gewisse Traurigkeit und Resignation. In den „herbstlichen Lichtern“ klagt die Wolke: „ich sinke, warum ich?“ Dies symbolisiert die Unvermeidbarkeit des Verfalls, der auch in der Natur nicht entkommen werden kann. Die Wolke wird von einem tiefen „Sinn von Dichtern“ ergriffen, was darauf hindeutet, dass diese Klage nicht nur ein Ausdruck der Natur ist, sondern auch eine metaphorische Reflexion über die menschliche Existenz. Die Frage nach dem Warum des Vergehens und das Gefühl des Hinaussinkens stellt das Thema der Vergänglichkeit des Lebens in den Mittelpunkt, wobei das Sinken gleichzeitig eine Form des Loslassens darstellt.
Die dritte Strophe führt den Wechsel der Jahreszeiten weiter aus und spricht den Winter an, in dem „gekrümmtes Gestäbe“ den Himmel durchzieht. Diese Bildsprache verweist auf den unveränderlichen Verlauf der Natur und das Bild der „spreizenden“ Abstände, die der Zeit und dem Raum inhärent sind. Diese Darstellung könnte die Trennung und Distanz zwischen den verschiedenen Aspekten des Lebens und der Natur verdeutlichen, ohne dass sich etwas daran ändert – eine Form der stillen Resignation gegenüber dem natürlichen Gesetz der Veränderung und des Lebenszyklus.
Das Gedicht schließt mit der Aussage „Beständig ist das leicht Verletzliche“, die das zentrale Thema des Gedichts zusammenfasst. Obwohl die Natur und alles Lebendige einer konstanten Veränderung unterworfen sind und sogar das Verletzliche durch diese Prozesse geht, bleibt es dennoch bestehen. Die „Laubwolke“ ist in ihrer Zartheit und Vergänglichkeit gleichzeitig ein Symbol für die Widerstandskraft der Natur, die trotz aller Zerbrechlichkeit in ihren Zyklen immer wieder zurückkehrt und in ihrer Anfälligkeit doch eine tiefe Beständigkeit trägt. Loerke stellt hier eine Paradoxie dar: Das, was zerbrechlich und verletzlich erscheint, ist zugleich das, was immer wiederkehrt und den ewigen Kreislauf von Leben und Tod verkörpert.
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Lizenz und Verwendung
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