Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
sind Schlüssel aller Kreaturen
wenn die, so singen oder küssen,
mehr als die Tiefgelehrten wissen,
wenn sich die Welt ins freie Leben
und in die Welt wird zurückbegeben,
wenn dann sich wieder Licht und Schatten
zu echter Klarheit werden gatten
und man in Märchen und Gedichten
erkennt die wahren Weltgeschichten,
dann fliegt von
einem
geheimen Wort
das ganze verkehrte Wesen fort.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren“ von Novalis stellt eine Vision einer zukünftigen Welt dar, in der die vorherrschenden rationalen und wissenschaftlichen Denkweisen durch eine tiefere, intuitive Wahrnehmung des Lebens und der Welt ersetzt werden. Zu Beginn kritisiert der Sprecher die Vorherrschaft von „Zahlen und Figuren“, die als rein logische, verstandesorientierte Mittel zur Erklärung der Welt dargestellt werden. Er stellt fest, dass in der Zukunft diejenigen, die sich der Kunst, der Musik oder der Liebe widmen – die „singen oder küssen“ – mehr Wissen besitzen als die „Tiefgelehrten“, was auf eine Verschiebung von der rein intellektuellen Betrachtung zur sinnlichen, emotionalen Erfahrung des Lebens hinweist.
In der zweiten Strophe beschreibt Novalis eine Rückkehr zu einer „freien Leben“ und einer Verbindung zwischen dem Menschen und der Natur, die über rein mechanistische oder theoretische Erklärungen hinausgeht. Das Bild der Welt, die sich wieder ins „freie Leben“ zurückbegibt, betont den Wunsch nach einer harmonischen Existenz, in der der Mensch mit der Natur und seinen inneren Werten in Einklang lebt. Diese Freiheit impliziert ein Verständnis der Welt, das nicht von starren Kategorien oder Berechnungen begrenzt ist.
Die dritte Strophe zeigt eine Zukunft, in der „Licht und Schatten“ zu einer wahren Klarheit finden. Das Bild der Vereinigung von Licht und Schatten symbolisiert die Verschmelzung von Gegensätzen – von Rationalität und Intuition, von Wahrheit und Fantasie. In dieser neuen Welt erkennen die Menschen in „Märchen und Gedichten“ die wahren „Weltgeschichten“, was darauf hinweist, dass die tiefere Wahrheit des Lebens und des Universums in der Kunst, der Poesie und den symbolischen Erzählungen zu finden ist, nicht in den nüchternen und abstrakten Zahlen.
Die abschließenden Zeilen vermitteln die Idee, dass, wenn dieses „geheime Wort“ erkannt wird, das ganze „verkehrte Wesen“ der Welt fortfliegt. Das „geheime Wort“ könnte als ein symbolisches Erweckungserlebnis verstanden werden, das den Menschen zu einer höheren Wahrnehmung der Realität führt, in der das chaotische und trügerische Wesen der Welt transformiert und in eine klarere, wahrere Existenz überführt wird. Novalis fordert eine Rückkehr zu einer ganzheitlicheren Sichtweise der Welt, die sowohl den Verstand als auch das Gefühl, die Kunst und die Wissenschaft vereint. In dieser Welt wird das Leben in seiner vollen Tiefe und Wahrheit erlebbar.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.