An die Melancholie
Du geleitest mich durchs Leben,
Sinnende Melancholie!
Mag mein Stern sich strahlend heben,
Mag er sinken – weichest nie!
Führst mich oft in Felsenklüfte,
Wo der Adler einsam haust,
Tannen starren in die Lüfte
Und der Waldstrom donnernd braust.
Meiner Toten dann gedenk ich,
Wild hervor die Träne bricht,
Und an deinen Busen senk ich
Mein umnachtet Angesicht.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „An die Melancholie“ von Nikolaus Lenau ist eine persönliche, fast liebevolle Anrufung eines Gefühlszustandes, der in der Romantik einen zentralen Stellenwert einnimmt. Die Melancholie wird nicht als bloßes Leiden beschrieben, sondern als ständige Begleiterin des lyrischen Ichs – eine treue, sinnende Kraft, die durch alle Höhen und Tiefen des Lebens führt.
Bereits in der ersten Strophe wird diese enge Beziehung etabliert: Die Melancholie „geleitet“ das Ich durch das Leben, unabhängig davon, ob dessen „Stern“ steigt oder sinkt. Das Bild des Sterns als Symbol des Schicksals oder der Lebensbahn betont die Unverrückbarkeit dieser Begleitung. Anders als flüchtige Gefühle oder äußere Umstände bleibt die Melancholie – nicht als destruktive Macht, sondern als stille, fast verlässliche Präsenz.
Die zweite Strophe beschreibt typische Szenerien romantischer Innerlichkeit: das Aufsuchen von einsamen, wilden Landschaften – „Felsenklüfte“, „Tannen“ und „Waldstrom“ – Orte der Erhabenheit und Abgeschiedenheit. Diese Naturbilder dienen nicht nur der äußeren Veranschaulichung, sondern spiegeln den inneren Zustand des lyrischen Ichs. Die Melancholie führt ihn dorthin, wo Einsamkeit und Naturgewalt aufeinandertreffen – in ein äußeres Bild seelischer Tiefe.
In der letzten Strophe wird deutlich, dass die Melancholie auch ein Medium der Erinnerung ist. Im Angesicht dieser Naturgewalt gedenkt das Ich seiner Toten – der Schmerz bricht auf, doch wird zugleich in einen Akt der Hingabe an die Melancholie selbst verwandelt. Das „umnachtete Angesicht“ am „Busen“ der Melancholie zu senken, verweist auf eine fast intime Beziehung: Sie wird zur tröstenden, mitfühlenden Figur, die Trauer aufnimmt und stützt.
„An die Melancholie“ ist somit nicht nur ein Gedicht über ein Gefühl, sondern ein Bekenntnis zur inneren Tiefe, zur schmerzhaften, aber schöpferischen Seite der Existenz. Lenau verleiht der Melancholie eine eigene Würde – als treue Lebensbegleiterin, die Schmerz, Erinnerung und Naturerfahrung zu einem einheitlichen seelischen Erleben verbindet.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.