Nächtlicher Gruß
An meine Freunde.
In dieser dunklen Stunde
Der rings ergossnen Nacht
Hab′ ich bei euch die Runde
Zu Gruß und Kuß gemacht.
In eines jeden Hause
Sprach ich getreulich vor,
Bis in des letzten Klause
Mein Geist sich ganz verlor.
Nun seid ihr längst versunken
In Schlaf und tiefen Traum,
Und schwingt euch ahnungstrunken
Hoch über Zeit und Raum.
Leicht glaubt ihr zu erstreben,
Was nie die Erde bot,
Und habt so doppelt Leben
Für einen halben Tod.
Ich aber habe leise
Der Pforte mich genaht,
Die in die ew′gen Kreise
Euch aufgetan den Pfad,
Und all die stumme Trauer,
Die mir das Herz noch schwellt,
Umschwebt als letzter Schauer
Euch kalt aus dieser Welt.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Nächtlicher Gruß“ von Friedrich Hebbel ist eine melancholische Reflexion über die Trennung zwischen dem Dichter und seinen Freunden, während diese sich im Schlaf befinden. Der Titel deutet bereits auf eine Abschieds- oder Grußgeste in der Nacht hin, die eine besondere Atmosphäre der Intimität und des Nachdenkens erzeugt. Das Gedicht ist in zwei Abschnitte unterteilt, die durch die unterschiedliche Perspektive und den Gemütszustand des Sprechers gekennzeichnet sind.
Im ersten Abschnitt beschreibt der Dichter seine nächtliche Runde durch die Häuser seiner Freunde, um ihnen einen Gruß und einen Kuss zu bringen. Er besucht sie in ihren Häusern, bis sein Geist sich im letzten Haus verliert, was darauf hindeutet, dass er sich von der Welt und seinen Freunden entfremdet hat. Er steht außerhalb der Schlafwelt seiner Freunde, was eine Isolation und eine Distanzierung von ihrem Zustand des unbeschwerten Glücks impliziert. Dieser Teil des Gedichts ist von einer sanften Melancholie geprägt, die durch die dunkle Stunde und die Stille der Nacht verstärkt wird.
Der zweite Abschnitt, welcher die Schlafwelt der Freunde thematisiert, steht im direkten Kontrast zum ersten. Während die Freunde schlafen, versinken sie tief in Träume und schweben „hoch über Zeit und Raum“. Der Dichter nimmt wahr, dass sie in ihren Träumen scheinbar Unmögliches erreichen und ein „doppelt Leben“ führen, was auf eine Flucht vor der Realität hindeutet. Diese Zeilen drücken sowohl Sehnsucht nach dem Zustand der Freunde, als auch das Wissen um die Vergänglichkeit und das tragische Schicksal des lyrischen Ichs aus. Die letzten Verse offenbaren eine tiefe Traurigkeit und die Ahnung des Todes.
Das Gedicht kulminiert in der Andeutung des Todes, die im letzten Abschnitt durch die Anspielung auf die „Pforte“ zur ewigen Welt deutlich wird. Der Dichter, der die Grenze zwischen Leben und Tod kennt, umgibt seine schlafenden Freunde mit der „stummen Trauer“, die sein Herz erfüllt. Dieser „letzte Schauer“ der Kälte, der aus der Welt kommt, deutet auf das bevorstehende Ende hin und betont die Vergänglichkeit des irdischen Lebens. Hebbels „Nächtlicher Gruß“ ist somit eine Meditation über die Trennung zwischen Lebenden und den Toten sowie über das Verhältnis von Traum und Realität.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.