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Morgengruß

Von

Guten Morgen, schöne Müllerin!
Wo steckst du gleich das Köpfchen hin,
Als wär dir was geschehen?
Verdrießt dich denn mein Gruß so schwer?
Verstört dich denn mein Blick so sehr?
So muß ich wieder gehen.

O laß mich nur von ferne stehn,
Nach deinem lieben Fenster sehn,
Von ferne, ganz von ferne!
Du blondes Köpfchen, komm hervor!
Hervor aus eurem runden Tor,
Ihr blauen Morgensterne!

Ihr schlummertrunknen Äugelein,
Ihr taubetrübten Blümelein,
Was scheuet ihr die Sonne?
Hat es die Nacht so gut gemeint,
Daß ihr euch schließt und bückt und weint
Nach ihrer stillen Wonne?

Nun schüttelt ab der Träume Flor
Und hebt euch frisch und frei empor
In Gottes hellen Morgen!
Die Lerche wirbelt in der Luft,
Und aus dem tiefen Herzen ruft
Die Liebe Leid und Sorgen.

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Gedicht: Morgengruß von Wilhelm Müller

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Morgengruß“ von Wilhelm Müller, aus der „Winterreise“, ist ein zarter, melancholischer Ausdruck der Liebe und Sehnsucht, der sich in der Naturmetaphorik widerspiegelt. Der wandernde Protagonist, offensichtlich in eine junge Müllerin verliebt, begrüßt sie am Morgen und beobachtet sie mit einer Mischung aus Hoffnung und Verzweiflung. Die ersten Strophen zeigen die Unsicherheit und die Zurückweisung, die er zu spüren glaubt. Die Fragen, die er stellt, deuten auf ein Ungleichgewicht in ihren Gefühlen hin und bereiten den Leser auf die spätere, intensivere Sehnsucht vor. Er sehnt sich danach, aus der Ferne ihr Fenster zu sehen und sie zu betrachten, was auf eine gewisse Scheu oder Distanz zurückzuführen ist.

Die zweite Hälfte des Gedichts nimmt eine naturalistische Wendung. Der Sprecher vergleicht die Augen der Müllerin mit „schlummertrunkenen Äugelein“ und sie mit „taubetrübten Blümelein“, die sich vor der Sonne scheuen. Diese Vergleiche verdeutlichen die Zuneigung des Sprechers, er betrachtet die Geliebte als Teil der Natur. Die Natur wird hier jedoch auch als Spiegelbild der eigenen Gefühle dargestellt: Die Melancholie und der Kummer, die er in ihren Zügen zu erkennen meint, spiegeln seine eigene Gefühlswelt wider. Die Nacht wird als Zeit der Ruhe und des Rückzugs dargestellt, während der Morgen, in dem er sie begrüßt, eine Zeit der Erneuerung und des Erwachens ist, jedoch auch eine Zeit der Enthüllung von Kummer.

Die letzten Strophen stellen einen Aufbruch dar, der jedoch von einer Ambivalenz geprägt ist. Der Aufruf, die Träume abzuwerfen und sich dem „hellen Morgen“ Gottes zu öffnen, ist ein hoffnungsvoller Appell zur Lebensbejahung. Doch gleichzeitig mischt sich die Erkenntnis, dass die Liebe auch Leid und Sorgen mit sich bringt, in diese Hoffnung. Das „Wirbeln der Lerche in der Luft“ und der „Ruf aus dem tiefen Herzen“ symbolisieren die unbändige Kraft der Liebe, die sowohl Freude als auch Schmerz mit sich bringt. Diese Dualität ist ein zentrales Thema des Gedichts und der Winterreise insgesamt.

Müllers „Morgengruß“ ist also nicht nur eine Liebeserklärung, sondern auch eine Reflexion über die Natur der Liebe und die damit verbundenen Emotionen. Die Naturmetaphern verstärken die Intimität und die Verwundbarkeit des Protagonisten, der seine Sehnsucht und seinen Schmerz in der Schönheit des Morgens findet. Das Gedicht fängt die Hoffnung, die Enttäuschung und die Akzeptanz der Liebe in einer prägnanten und eindringlichen Weise ein, die typisch für Müllers melancholische, aber anrührende Lyrik ist.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.