Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , , , , ,

Morgen und Abend

Von

O Morgenzeit, du frische Zeit!
Des Lebens reichste Quelle!
Du machst die enge Brust mir weit,
Das trübe Aug′ mir helle!
Mir ist, als dürft′ ich auferstehn
Aus einem dumpfen Grabe,
Wenn ich das erste Licht gesehn,
Den Hauch getrunken habe.

Dem Teich Bethesda gleicht mein Herz
Mit seinen frischen Säften,
Die schwellen es zu Lust und Schmerz
Mit tausend neuen Kräften:
Ihr trunknes Durcheinanderspiel
Erfüllt mich mit Entzücken;
Ich weiß nicht was, doch will ich viel,
Und alles muß mir glücken!

Allein, unendlich ist die Welt,
Und, wie die Brust sich dehne,
Sie fühlt′s zuletzt, und brennend fällt
Die reine Menschenträne.
Dann sinkt des Abends heil′ge Ruh,
Als wär′s auf eine Wunde,
Auf sie herab, und schließt sie zu,
Damit sie still gesunde.

Des Menschen Kraft reicht eben aus
Zum Kämpfen, nicht zum Siegen,
Wir sollen in dem ew′gen Strauß
Nicht stehn und nicht erliegen;
Doch, wenn uns dies das Herz beschwert,
Naht der ersehnte Schlummer,
Und, ward der letzte Wunsch gewährt:
Wem mach der erste Kummer?

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Morgen und Abend von Friedrich Hebbel

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Morgen und Abend“ von Friedrich Hebbel ist eine tiefgründige Reflexion über den Kreislauf des Lebens, die von der euphorischen Aufbruchstimmung des Morgens bis zur versöhnlichen Ruhe des Abends reicht. Es ist eine Metapher für die menschliche Existenz, die von unbändiger Lebensfreude, überschäumendem Enthusiasmus und dem Gefühl unbegrenzter Möglichkeiten (Morgen) zu den unvermeidlichen Erfahrungen von Schmerz, Leid und der Akzeptanz der eigenen Grenzen (Abend) führt.

Die erste Strophe beschreibt die erhebende Erfahrung des Morgens. Die Morgenzeit wird als „frische Zeit“ und „reichste Quelle des Lebens“ gefeiert, die die Seele weitet und die Augen erhellt. Das lyrische Ich erlebt eine Art Wiedergeburt, ein Gefühl, als würde es aus einem Grab auferstehen. Dieser Aufbruch in einen neuen Tag ist begleitet von einem Gefühl des Optimismus und der Hoffnung. Die anschließende zweite Strophe verstärkt diesen Eindruck noch. Das Herz wird mit dem Teich Bethesda verglichen, dessen „frische Säfte“ das Herz mit neuen Kräften erfüllt. Die „trunknes Durcheinanderspiel“ der Gefühle wird als Quelle der Freude und des Entzückens empfunden, ein Ausdruck des jugendlichen Überschwangs und des ungestümen Lebensdrangs.

Die dritte Strophe markiert den Übergang von der Euphorie des Morgens zur Ernüchterung des Abends. Die Erkenntnis der unendlichen Weite der Welt und die damit verbundene Beschränktheit des eigenen Seins führt zu einer „brennenden“ Träne. Der Schmerz wird zum Bestandteil des menschlichen Daseins. Die „heil’ge Ruh“ des Abends wird als Linderung empfunden, als Balsam auf die Wunde, die das Leben geschlagen hat. Dies deutet auf eine Akzeptanz der Unvollkommenheit und der Vergänglichkeit hin.

In der abschließenden vierten Strophe wird die zentrale Botschaft des Gedichts verdichtet. Der Mensch wird als Wesen dargestellt, das zum Kämpfen, aber nicht zum vollständigen Siegen bestimmt ist. Es geht nicht darum, den Kampf zu gewinnen, sondern ihn zu bestehen. Die Erkenntnis der eigenen Grenzen, das Wissen um Schmerz und Verlust, führt zum „ersehnten Schlummer“, dem Schlaf, der Ruhe, dem Tod, wo der erste Kummer keine Bedeutung mehr hat. Das Gedicht mündet somit in eine versöhnliche Betrachtung des Lebens, das seinen Lauf von unbändigem Aufbruch bis zur sanften Verabschiedung vollendet.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.