Der Gelehrte
Tag. Das Fenster. Im Quadrat
Mir genug des Weltgesichtes.
Hohe Blumen, schlanke Tiere,
Bild der Wolke, Gang des Lichtes:
Was da in den Rahmen trat,
Wird geheim und innerlich,
Und ich reinige und ziere
Seinen Aufenthalt: mein Ich.
Nacht. Die Lampe. Wo ihr gelber
Lichtkreis schwebt auf dem Papiere,
Reden mich die Lettern an:
Tote, die ihr Schweigen brechen.
Meine Lippen ahmen ihre
Sprache leise nach. So kann,
Ach wie bald gestorben, selber
Mit den Lebenden ich sprechen.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Der Gelehrte“ von Max Kommerell beschäftigt sich mit der Beziehung des Gelehrten zu seiner Umwelt und dem intellektuellen Prozess des Wissens und Verstehens. Die erste Strophe beschreibt den Tag, in dem der Gelehrte durch das Fenster auf die Welt blickt. Das „Quadrat“ des Fensters begrenzt die Wahrnehmung der Welt, doch in dieser Begrenzung liegt eine Form der Konzentration. Der Gelehrte betrachtet die „hohen Blumen“ und „schlanken Tiere“, die „Bild der Wolke“ und den „Gang des Lichtes“, die als Symbole für die Natur und die Welt stehen. Diese äußeren Eindrücke werden durch das Fenster in den „Rahmen“ seines Bewusstseins aufgenommen und verwandeln sich in etwas „geheimes und innerliches“, das in der Tiefe des Geistes weiter bearbeitet und „gereinigt“ wird. Das Bild des Rahmens und des „Ichs“ deutet darauf hin, dass der Gelehrte die Welt nicht nur betrachtet, sondern sie aktiv in seinen eigenen inneren Raum integriert und in seinen intellektuellen Kontext setzt.
Die zweite Strophe bringt einen Kontrast zwischen Tag und Nacht, wobei die Nacht für den Gelehrten eine andere Form des Wissens und der Kommunikation bereithält. In der Nacht wird der Gelehrte von der „Lampe“ und ihrem „gelben Lichtkreis“ begleitet, der auf das „Papier“ fällt. Die „Lettern“ auf dem Papier, die „toten“ Zeichen und Worte, beginnen mit ihm zu sprechen, und er ahmt ihre Sprache nach. Diese Toten sind keine leblosen Zeichen, sondern lebendig werdende Träger von Wissen und Bedeutung. Der Gelehrte verbindet sich mit ihnen, indem er ihre „Sprache“ leise nachahmt. Diese Vorstellung vermittelt, dass der Gelehrte durch das Studium der Schrift eine tiefere Verbindung zu den „Toten“ – also den Verstorbenen oder den Geistern der Vergangenheit – aufbaut und mit ihnen kommunizieren kann.
Die Vorstellung, dass der Gelehrte „mit den Lebenden“ sprechen kann, obwohl er „selber bald gestorben“ ist, eröffnet eine philosophische Reflexion über die Zeit und das Wissen. In der Nacht und durch das Studium wird der Gelehrte von der Gegenwart losgelöst, als ob er sich mit der Vergangenheit und den Toten vereint. Das „Selbst“ wird zum Vermittler zwischen Leben und Tod, Vergangenheit und Gegenwart, und der Gelehrte ist sowohl Teil der lebenden Welt als auch in der Lage, durch seine Intellektualität und das Wissen mit den Verstorbenen zu sprechen.
Kommerell zeigt in diesem Gedicht die Vielschichtigkeit des Wissens, das der Gelehrte im Einklang mit der äußeren Welt und der Geschichte erlangt. Das Gedicht reflektiert die Fähigkeit des Gelehrten, durch Studium und Meditation in einen Dialog mit der Welt und den Geistern der Vergangenheit einzutreten. Der Übergang zwischen Tag und Nacht, zwischen der äußeren Welt und der inneren Welt des Wissens, unterstreicht den Prozess der Erkenntnis, der sowohl eine schöpferische als auch eine kommunikative Tätigkeit ist.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.