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Die Spiegel

Von

Warum werden Spiegel im Alter matt?
Weil jeder maßlos genossen hat.
Denn sind sie glücklich, die schönen Frauen,
Tun sie geschwind zu dem Spiegel schauen.
Und mussten zarte Frauen mal weinen,
Trocknen am Spiegel die Tränen, die feinen.
Immer müssen die heimlichsten Frauen
Herzenswünsche dem Spiegel vertrauen.
Wie oft habe ich einen Spiegel beneidet,
Weil meine Liebste sich an ihm weidet!
Wie oft habe ich ihren Spiegel verflucht,
Da ich warten musste, wenn sie ihn besucht.
Gar manche hat alle Männer verhöhnt
Und lächelnd nur ihren Spiegel verwöhnt.
Ich schlüge gern all‘ die Spiegel ein,
Sie verführen die Frau’n durch Schmeichelein.
O Gott, wenn ich selbst doch ein Spiegel wär!
Denn jede trennt sich von ihm so schwer.

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Gedicht: Die Spiegel von Max Dauthendey

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Spiegel“ von Max Dauthendey reflektiert auf charmant-melancholische Weise das Verhältnis zwischen Frauen, Schönheit und Spiegeln – zugleich aber auch die Eifersucht und Sehnsucht des lyrischen Ichs. Der Spiegel wird hier nicht bloß als Gegenstand dargestellt, sondern als intimer Begleiter, Vertrauter und sogar als Rivale in der Liebe.

Schon in den ersten beiden Zeilen wird eine poetische Begründung für das Altern der Spiegel geliefert: Sie werden „matt“, weil sie von zu vielen Emotionen und Blicken „maßlos genossen“ wurden. Der Spiegel wird dadurch personifiziert – er leidet unter der Intensität menschlicher Gefühle, vor allem der Frauen, die sich mit ihm verbinden. Er kennt Glück wie Schmerz: Freude zeigt sich im eiligen Hinschauen, Trauer in der Träne, die sich an ihm trocknet.

Das lyrische Ich sieht den Spiegel als stillen Vertrauten der Frauen, dem sie ihre „heimlichsten Herzenswünsche“ anvertrauen. In diesem intimen Verhältnis liegt auch der Kern seiner Eifersucht: Der Spiegel ist immer da, wo der Sprecher warten muss. Er wird zur Projektionsfläche männlicher Unsicherheit und romantischer Frustration – der Spiegel ist dem geliebten Menschen näher, genießt ihre Aufmerksamkeit, während der Liebende ausgeschlossen bleibt.

Mit spürbarem Humor, aber auch einem ernsten Unterton, steigert sich der Sprecher bis zum Wunsch, alle Spiegel zu zerstören – denn sie „verführen die Frau’n durch Schmeichelein“. Diese Aussage bringt sowohl Misstrauen als auch die Erkenntnis zum Ausdruck, dass Schönheit und Eitelkeit eine eigene, schwer greifbare Macht besitzen. Die letzte Zeile schließlich bringt die ironische Wende: Der Sprecher wünscht sich selbst, ein Spiegel zu sein – nicht aus Eitelkeit, sondern um so nahe sein zu dürfen wie dieses „verhasste“ Objekt.

Dauthendey gelingt hier eine feinsinnige, bittersüße Betrachtung über Schönheit, Selbstbild und Liebe. Der Spiegel steht symbolisch für die unsichtbaren, doch wirkungsvollen Beziehungen, die Menschen mit sich selbst und ihrem Spiegelbild führen – Beziehungen, die nicht einmal der Liebende durchbrechen kann. Das Gedicht oszilliert dabei zwischen Heiterkeit und Wehmut, zwischen Spott und zarter Bewunderung.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.