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Die Geburt des Genies

Von

In Felsen kauert die Seele.
Sie lauscht ihrem Atem,
Und atmet ihre Gedanken.
Aber die Ruhe allein gibt ihr nicht die Kraft,
Sie saugt ihre Kraft aus der Erschöpfung,
Aus dem Vertönen erschlaffender Kräfte.

Das Meer wälzt seine Berge um die Stille,
Und ihre Einsamkeit umbrüllen die Wellen,
Über die Felsen fliegt gieriger Schaum,
Er netzt nicht, – er zerspringt in Luft –
Kein Hauch berühret die Seele.
Und dann, ein Tag! Ein Jahr! Ein Jahrhundert!

Kein Zeitraum, der den Triumph einer Sekunde umfassend erschöpfe,
Die Felsen wanken, bersten, zerkrachen.
Das Echo sprengt splitternd die Lüfte,
Spaltet die Ruhe, schleudert Berge empor,
Und schroff auf, wild im Flammensprung,
Im begeisterten Arme die Fackel,
Gebärt das Genie sich dem Lichte!

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Gedicht: Die Geburt des Genies von Max Dauthendey

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Geburt des Genies“ von Max Dauthendey ist eine kraftvolle Allegorie über den schöpferischen Prozess, über den Ursprung der Inspiration und die Entstehung einer außergewöhnlichen geistigen Kraft. Im Zentrum steht das Bild der in sich gekehrten, lauschenden Seele, die in den Felsen „kauert“ – ein Symbol für Rückzug, Stille und innere Sammlung. Doch diese Stille allein ist nicht fruchtbar; die Seele gewinnt ihre Kraft aus der „Erschöpfung“, aus dem Ausbrennen und „Vertönen erschlaffender Kräfte“. Hier zeigt sich Dauthendeys Vorstellung, dass wahre schöpferische Energie nicht aus Ruhe, sondern aus Überwindung und innerem Ringen entsteht.

Die Natur erscheint als Spiegel und Verstärker dieses inneren Prozesses. Das Meer, mit seinen gewaltigen, um die Stille wälzenden „Bergen“, die „umbrüllenden Wellen“ und der „gierige Schaum“, verkörpert das Unablässige, das Drängende – doch auch dieses Getöse vermag die Seele nicht zu berühren. Die Zeit vergeht – „ein Tag! Ein Jahr! Ein Jahrhundert!“ – ohne dass sich äußerlich etwas ändert. Die kreative Seele scheint außerhalb des Zeitflusses zu existieren, in einem Schwebezustand zwischen Potential und Durchbruch.

Dann jedoch folgt ein eruptiver Moment: Die Felsen „bersten“, das „Echo“ sprengt die Luft, Ruhe wird „gespalten“. Diese plötzliche Entladung symbolisiert den Moment der Geburt des Genies – ein Akt voller Gewalt, Licht und Begeisterung. Die Fackel, im „begeisterten Arme“, steht für Erkenntnis, für Inspiration, für das schöpferische Feuer. Das Genie tritt nicht leise in die Welt, sondern mit elementarer Wucht – als Verkörperung eines inneren Blitzschlags, einer langen angestauten Kraft, die sich endlich entlädt.

Dauthendey schafft mit eindringlichen Naturbildern und rhythmischer Steigerung ein dramatisches Szenario der geistigen Geburt. Dabei ist das Genie nicht bloß ein Begabter, sondern eine existenzielle Gestalt, geboren aus Kampf, Einsamkeit, Leiden und einer explosiven Kraftentladung. Der Text beschreibt weniger einen linearen Entwicklungsprozess als vielmehr ein mythisches, fast kosmisches Ereignis – die Erschaffung eines lodernden Geistes aus der Tiefe der Welt.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.