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Phidile

Von

Ich war erst sechzehn Sommer alt,
Unschuldig und nichts weiter,
Und kannte nichts als unsern Wald,
Als Blumen, Gras und Kräuter.

Da kam ein fremder Jüngling her;
Ich hatt ihn nicht verschrieben,
Und wußte nicht wohin noch her;
Der kam und sprach von Lieben.

Er hatte schönes langes Haar
Um seinen Nacken wehen;
Und einen Nacken, als das war,
Hab ich noch nie gesehen.

Sein Auge, himmelblau und klar!
Schien freundlich was zu flehen;
So blau und freundlich, als das war,
Hab ich noch keins gesehen.

Und sein Gesicht, wie Milch und Blut!
Ich habs nie so gesehen;
Auch, was er sagte, war sehr gut,
Nur konnt ich nichts verstehen.

Er ging mir allenthalben nach,
Und drückte mir die Hände
Und sagte immer O und Ach,
Und küßte sie behende.

Ich sah ihn einmal freundlich an
Und fragte, was er meinte;
Da fiel der junge schöne Mann
Mir um den Hals und weinte.

Das hatte niemand noch getan;
Doch wars mir nicht zuwider,
Und meine beiden Augen sahn
In meinen Busen nieder.

Ich sagt ihm nicht ein einzig Wort,
Als ob ichs übel nähme,
Kein einzigs, und – er flohe fort;
Wenn er doch wieder käme!

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Gedicht: Phidile von Matthias Claudius

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Phidile“ von Matthias Claudius schildert die naive und unschuldige Begegnung eines jungen Mädchens mit der ersten Liebe. Die Sprecherin, gerade sechzehn Jahre alt, lebt abgeschieden in der Natur und kennt nichts als „unsern Wald“. Ihre Welt ist eine unberührte, kindlich-unschuldige Idylle, bis ein fremder Jüngling erscheint und ihr von der Liebe spricht. Doch was er sagt, bleibt für sie unverständlich – seine Worte scheinen weniger Bedeutung zu haben als seine Erscheinung und sein Verhalten.

Die Beschreibung des Jünglings ist idealisiert: sein langes Haar, sein schöner Nacken, die himmelblauen Augen und sein Gesicht, das an „Milch und Blut“ erinnert, rücken ihn in ein fast märchenhaftes Licht. Er wird als sanft und verletzlich dargestellt, insbesondere als er ihr „um den Hals“ fällt und weint. Die Sprecherin reagiert darauf nicht mit Abwehr, sondern mit Staunen und einer stillen, unbewussten Zuneigung, die sich in ihrem gesenkten Blick ausdrückt.

Das Ende des Gedichts bringt eine unerwartete Wendung: Ohne ein Wort zu wechseln, verschwindet der Jüngling plötzlich, und die Sprecherin bleibt mit einem unerfüllten Sehnen zurück. Ihr letzter Ausruf „Wenn er doch wieder käme!“ zeigt die erste Regung einer neu erwachten Sehnsucht. So thematisiert das Gedicht den Moment des Übergangs von kindlicher Unschuld zur ersten Ahnung von Liebe und Verlust, eingebettet in eine sanfte, melancholische Stimmung.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.