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Ein Lied für Schwindsüchtige

Von

Weh mir! Es sitzt mir in der Brust,
Und drückt und nagt mich sehr;
Mein Leben ist mir keine Lust
Und keine Freude mehr.

Ich bin mir selber nicht mehr gleich,
Bin recht ein Bild der Not,
Bin Haut und Knochen, blaß und bleich,
Und huste mich fast tot.

Die Luft, drein herrlich von Natur
Gott seinen Segen senkt,
Und daraus alle Kreatur
Mit Heil und Leben tränkt;

Die ist für mich nicht frei, nicht Heil.
Mein Atem geht schwer ein;
Ich muß um mein bescheiden Teil
Mich martern und kastein.

Und doch labt’s und erquickt’s mich nicht,
Macht’s mir nicht frischen Sinn;
Die Blume, die der Wurm zersticht,
Welkt jämmerlich dahin!

Auch Schlaf, der alle glücklich macht,
Will nicht mein Freund mehr sein,
Und lässet mich die ganze Nacht
Mit meiner Not allein.

Die Ärzte tun zwar ihre Pflicht,
Und fuschern drum und dran;
Allein sie haben leider nicht
Das, was mir helfen kann.

Mein Hülf allein bleibt Sarg und Grab,
O sängen an der Tür
Sie schon, und senkten mich hinab!
Wie leicht und wohl wär’s mir!

O sängen doch an meiner Tür
Sie laut: „Ich habe meine Sach etc.“
Und trügen mich, und folgten mir
In langer Reihe nach,

Rund um die Kirch ans Grab heran,
Und senkten mich hinein! –
Ich läg und hätte Ruhe dann,
Und fühlte keine Pein.

Doch ich will leiden, bis Gott ruft,
Gern leiden bis ans Ziel.
Nur deinen Trost! und etwas Luft!
Du hast der Luft so viel.

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Ein Lied für Schwindsüchtige von Matthias Claudius

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Ein Lied für Schwindsüchtige“ von Matthias Claudius ist ein eindringliches lyrisches Zeugnis von Krankheit, Leid und Todessehnsucht, das die körperliche wie seelische Erschöpfung eines schwer kranken Menschen in klaren, schlichten Bildern beschreibt. Das lyrische Ich leidet an Schwindsucht – einer früheren Bezeichnung für Tuberkulose – und reflektiert seinen körperlichen und seelischen Verfall mit einer Mischung aus Resignation, Klage und einem tiefen Wunsch nach Erlösung.

Bereits in den ersten Strophen wird das Ausmaß des Leidens deutlich: „Es sitzt mir in der Brust / Und drückt und nagt mich sehr“. Die Krankheit greift sowohl physisch als auch psychisch an – das Leben ist „keine Freude mehr“, der Körper ein Bild des Elends, „Haut und Knochen, blaß und bleich“. Der Verlust an Lebenskraft wird durch den immer wiederkehrenden Husten unterstrichen, ein Symbol für die quälende Gegenwart der Krankheit.

Ein zentrales Motiv ist die Entfremdung von der Natur: Die Luft, normalerweise Quelle des Lebens und göttlicher Segen, ist für das lyrische Ich nicht mehr heilsam. Sie wird als etwas empfunden, das verweigert oder schwer zugänglich ist – ein paradoxer Zustand, der die Isolation des Kranken verstärkt. Selbst der Schlaf, ein eigentlich tröstendes Naturphänomen, „will nicht mein Freund mehr sein“ und lässt den Kranken allein mit seinem Schmerz.

Der Gedanke an den Tod wird zunehmend als Erlösung dargestellt. Die Vorstellung der Beerdigung wird nicht mit Schrecken, sondern mit Sehnsucht beschrieben – ein poetisches Bild des Friedens: „Wie leicht und wohl wär’s mir!“ Die Trauergemeinde und das Begräbnis werden nicht als Endpunkt, sondern als ersehnte Befreiung imaginiert. Dennoch klingt keine vollständige Verzweiflung an: In der letzten Strophe wird der Wille zum Ausharren formuliert – „Doch ich will leiden, bis Gott ruft“ – verbunden mit der Bitte um Trost und ein wenig Luft.

Das Gedicht bewegt sich somit zwischen Schmerz und Hoffnung, zwischen Todeswunsch und Glauben. Es zeigt eindrucksvoll, wie die Schwindsucht nicht nur den Körper, sondern auch das Lebensgefühl angreift – und wie das Leiden, trotz aller Klage, in einen stillen, demütigen Glauben an göttliche Fügung mündet. Die letzte Bitte ist eine zutiefst menschliche: um ein wenig Erleichterung – von dem, der „der Luft so viel“ hat.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.