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Ein modernes Weib

Von

Ein Mann beleidigte ein Weib. Es war
Von jenen schnöden Thaten eine, die
Kein Weib vergessen und vergeben kann.

Geraume Zeit verstrich. Da eines Abends
Ward an die Thür des Frevlers laut gepocht.
Er rief: „Herein“, und sah voll tiefen Staunens,
In Trauerkleidern eine Frau vor sich.

Sie schlug den Schleier bald zurück. Er blickte
In ihre großen stolzerstarrten Augen,
In diese großen schmerzversengten Augen …
Er lächelte verlegen, denn ein Schauer
Erfaßte ihn … Er bot ihr höflich Platz,
Sie aber dankte, und mit ruhiger Stimme
Sprach sie zu ihm: „Du hast mich schwer beleidigt,
Es war nur Gott dabei … vor diesem Gott,
Vor dir, und mir allein, will ich den Flecken
Den Makel meiner Ehre, zugefügt
Von deiner Hand, verlöschen.
Höre nun!
Um dies zu thun, bleibt mir ein Mittel nur:
Ich kann nicht gehn, um einem fremden Menschen
Das was ich selbst mir kaum zu sagen wage,
Zu offenbaren. Für mich herrscht kein Richter,
Er wär‘ denn blind und taub und stumm, deshalb
(Ein Schildern des Vergangenen glich‘ aufs Haar
Der neuen That, hieß‘ selber mich entehren),
Deshalb gibt’s eins nur: hier sind Waffen, wähle!“
Sie stellte auf den Tisch ein Kästchen hin
Und öffnete den Deckel. – –
Lange standen
Die beiden Menschen stumm. Er sah sie an,
Sie hielt das glänzend große Aug‘ gerichtet
Fest auf die Waffen.
Plötzlich brach er aus
In lautes Lachen. Da durchglühte feurig
Ein tiefes Rot die farbenlosen Wangen
Der jungen Frau. Wie, wenn die ganze Antwort
Dies Lachen wär‘? Sie hätte schreien mögen

Vor Wut und Elend. Aber sie bezwang sich,
Und sagte mild: „Wenn dir ein Unvorsichtiger
Zufällig auf den Fuß getreten wäre,
Du würdest ohne lange Ueberlegung
Ihm deine Karte in das Antlitz schleudern,
Nichts Lächerliches fändest du dabei.
Nun denk‘: nicht auf den Fuß trat mir ein Mensch,
Mein Herz trat er in Stücke, meine Ehre!
Verlang‘ ich mehr, als du verlangen würdest
Für einen unvorsichtigen Schritt, sag‘ selbst,
Ist das nicht billig?“

Lächelnd sah er ihr
Ins zornerglühte Antlitz. „Liebes Kind,
Du scheinst es zu vergessen, daß ein Weib
Sich nimmer schlagen kann mit einem Manne.
Entweder geh zum Richter, liebes Kind,
Gesteh ihm alles, gerne unterwerfe
Ich seinem Urteil mich. Nicht? Nun dann bleibt
Dir nur das eine noch: vergesse, was du
Beleidigung und Schmach nennst. Siehst du, Liebe,
Das Weib ist da zum Dulden und Vergeben …“
Jetzt lachte sie.
„Entweder Selbstentehrung
Wenn nicht, ein ruhiges Tragen seiner Schmach,
Und das, das ist die Antwort, die ein Mann
In unserer hellen Zeit zu geben wagt
Der Frau, die er beleidigt.“
„Eine andere
Wär‘ gegen den Brauch.“
„So wisse, daß das Weib
Gewachsen ist im neunzehnten Jahrhundert,“
Sprach sie mit großem Aug‘, und schoß ihn nieder.

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Gedicht: Ein modernes Weib von Maria Janitschek

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Ein modernes Weib“ von Maria Janitschek ist ein dramatisch zugespitztes, erzählendes Gedicht, das mit großer Eindringlichkeit eine weibliche Rebellion gegen patriarchale Normen und moralische Doppelmoral darstellt. Es erzählt die Geschichte einer Frau, die nach einer nicht näher benannten, aber tiefgreifenden Verletzung durch einen Mann Gerechtigkeit sucht – nicht durch gesellschaftlich vorgegebene Wege, sondern durch einen selbstbestimmten Akt, der in radikaler Konsequenz endet.

Die Frau tritt dem Täter mit kühler Entschlossenheit gegenüber. Sie fordert ihn zum Duell, wie es unter Männern üblich ist, weil sie weiß, dass es in der von Männern bestimmten Welt keine Möglichkeit für eine Frau gibt, sich ihrer Ehre zu erwehren, ohne sich dabei selbst erneut zu entwürdigen. Der Akt des Duellierens, traditionell ein Mittel männlicher Ehrverteidigung, wird hier symbolisch für das Streben nach Gleichwertigkeit – sie verlangt kein Mitleid, sondern Gerechtigkeit auf Augenhöhe.

Besonders stark ist die Konfrontation mit der herablassenden Haltung des Mannes. Seine überlegene, spöttisch-wohlwollende Reaktion auf ihre Forderung – gepaart mit der traditionellen Vorstellung, das Weib sei „da zum Dulden und Vergeben“ – enthüllt die patriarchale Denkweise, gegen die sich das lyrische Ich auflehnt. Ihre abschließende Tat, den Mann zu erschießen, ist nicht bloß ein Akt der Rache, sondern ein Ausdruck extremer Emanzipation – ein Bruch mit einer Gesellschaft, die der Frau keine andere Möglichkeit zur Wahrung ihrer Würde lässt.

Janitschek stellt mit diesem Gedicht nicht nur die Ohnmacht der Frau in einem männlich dominierten Rechtssystem dar, sondern auch die innere Stärke und das wachsende Selbstbewusstsein eines neuen Frauentypus: das „moderne Weib“. Die Tat ist bewusst provokant inszeniert – nicht als moralisches Ideal, sondern als symbolisches Fanal gegen die gesellschaftliche Erwartung an weibliche Passivität und Demut.

„Ein modernes Weib“ ist somit ein kraftvoller Beitrag zur frühen feministischen Literatur. Es thematisiert zentrale Fragen der Geschlechtergerechtigkeit, Autonomie und Ehre und bricht auf radikale Weise mit den Konventionen der Zeit. Die Frau in diesem Gedicht ist kein Opfer, sondern eine Figur des Widerstands – eine tragische Heldin der Moderne.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.