Im Spiegel
Ach, du Verliebte,
wie mein ich mich selber
in dir zu erkennen,
wenn deine kleinen
sehnsüchtigen Füße
wandern im Zwielicht!
Da wissen die Büsche
von Obdach und Zuflucht
in Schauer und Dunkel,
da lachen die Quellen
mit blitzenden Augen
und senden dir eifrig
das rieselnde Rinnsal,
die purzelnden Bäche
und stürzenden Wasser,
den Durst dir zu löschen!
Da blinzeln die Sterne
verschwiegen und lüstern,
indessen die Moose
gefällig sich ducken,
indessen die Meisen
die wohlige Wärme
im Nestchen dir rühmen,
und nur die zwei Igel
im Krautwerk dich fauchend
und schnaufend verwarnen:
„Auch Liebe macht Arbeit.“
Ach du Verliebte,
wie mein ich mich selber
in dir zu erkennen,
wenn deine kleinen
sehnsüchtigen Füße
wandern im Zwielicht!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Im Spiegel“ von Margarete Beutler beschreibt in zartem Ton eine Projektion des eigenen Selbst in eine verliebte, suchende Gestalt. Es beginnt und endet mit derselben Strophe – eine Art Spiegelrahmen, der den lyrischen Blick auf die „Verliebte“ als ein Wiedererkennen des eigenen Ichs inszeniert. Die wiederholte Zeile „wie mein ich mich selber / in dir zu erkennen“ deutet darauf hin, dass das lyrische Ich nicht nur Beobachterin, sondern auch Identifikationsfigur ist. Die Verliebte wird so zur Spiegelung eines früheren Selbst, eines Zustands des Aufbruchs, der Sehnsucht und der Empfänglichkeit für die Welt.
Die Natur erscheint im Gedicht als mitschwingender Resonanzraum der Verliebtheit. Büsche, Quellen, Sterne, Moose und Vögel wirken wie mitfühlende oder sogar hilfsbereite Begleiter. Besonders auffällig ist die fast personifizierende Darstellung der Umwelt: Die Quellen „lachen“, die Meisen „rühmen“ die Nestwärme, und selbst das Wasser reagiert aktiv, indem es „den Durst […] löscht“. Diese lebendige Natur versinnbildlicht das aufgewühlte, sehnsuchtsvolle Innenerleben der Figur – sie spiegelt ein Begehren, das nicht nur sinnlich, sondern auch nach Geborgenheit und Erfüllung strebt.
Eine humorvolle, beinahe ironische Brechung erfährt dieses Bild durch die beiden Igel, die als Einzige warnen: „Auch Liebe macht Arbeit.“ Hier tritt ein realistischeres, vielleicht altersweiseres Element in das ansonsten von romantischer Aufladung geprägte Gedicht. Die Igel stellen damit eine Art Kontrapunkt zum idealisierten Erleben der Verliebten dar – sie erinnern an die Mühen und Herausforderungen, die mit der Liebe ebenfalls einhergehen.
Die Sprache des Gedichts ist sanft, sinnlich und detailreich. Durch Wiederholungen, Lautmalerei („rieselnde Rinnsal“, „purzelnde Bäche“) und gezielte Naturmetaphorik entsteht eine Atmosphäre zwischen Märchen und innerer Vision. Die zarten „sehnsüchtigen Füße“ der Verliebten, die durch das Zwielicht wandern, wirken wie ein poetisches Bild für den tastenden, ungewissen Weg der Liebe – und zugleich für eine Erinnerung an das eigene jung verklärte Begehren.
So ist „Im Spiegel“ eine poetische Meditation über Liebe, Erinnerung und Selbsterkenntnis. Die äußere Figur der Verliebten erlaubt dem lyrischen Ich einen Blick zurück in die eigene Vergangenheit – voll Empathie, zarter Ironie und einem liebevollen, fast mütterlichen Verständnis.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.