Kein Frühling mehr
Es sitzt in trauter Zelle
Am Fenster ein Mägdlein bleich
Und schaut hinab in die Welle,
Da rollen zwei Perlen helle
Wohl in das Wasser gleich.
Sie hört eine Flöte von weitem,
Sie blickt auf Schilf und Rohr;
Da keimen verlorene Freuden,
Da sprossen vergessene Leiden
Ihr frisch im Herzen empor.
„Die Welle rinnt und schäumet,
Grün Laub schmückt wieder den Baum.
Ach, Frühling, hast lange gesäumet!
Nur ist mir, als hätt‘ ich geträumet
Ein’n langen, schweren Traum.
„Ich weiß, der Lenz schwebt nieder,
Ich weiß wohl: es ist Mai;
Doch kehren dieselben Lieder,
Dieselben Blumen nicht wieder;
Ist alles anders und neu.“
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Kein Frühling mehr“ von Luise Hensel beschreibt die melancholische Reflexion einer jungen Frau, die in einer Zeit der inneren Trauer und des Verlustes lebt. Zu Beginn sieht sie in einer „traueren Zelle“ aus dem Fenster, was eine Art von Gefangenschaft oder Zurückgezogenheit symbolisiert. Das Bild des „Mägdleins bleich“ deutet auf eine gesundheitliche oder seelische Schwäche hin, die möglicherweise mit Kummer oder unheilbaren Wunden zusammenhängt. Die „zwei Perlen“ in der Welle, die hinabrollen, können als Metapher für Tränen oder verlorene Hoffnungen interpretiert werden, die vom Wasser verschlungen werden.
Der zweite Abschnitt des Gedichts führt die Stimmung des Mädchens weiter. Es hört eine Flöte, sieht das Schilf und Rohr, was Bilder der Natur hervorruft, die mit verlorenen „Freuden“ und „Leiden“ verbunden sind. Die „frischen Keime“ von Erinnerungen und Gefühlen deuten darauf hin, dass die junge Frau von der Zeit, die sie hinter sich gelassen hat, eingeholt wird. Ihr Herz ist noch von den vergangenen Freuden und Schmerzen erfüllt, die sie einst kannte. Es scheint, als ob sie zu sich selbst zurückfindet, doch es ist ein schmerzhafter Rückblick, da die Freuden und Leiden längst in der Vergangenheit liegen.
Im dritten Vers beschreibt das Mädchen, wie der Frühling zwar sichtbar geworden ist, jedoch nicht mehr den alten Glanz oder die Freude auslöst. Die „Welle rinnt und schäumet“ und das „grüne Laub schmückt wieder den Baum“, doch für sie fühlt es sich an, als ob der Frühling zu spät gekommen wäre, als ob er ein „langer, schwerer Traum“ war. Diese Zeilen reflektieren die Entfremdung von der Natur und der Lebensfreude. Der Frühling, symbolisch für Neubeginn und Hoffnung, erscheint hier nicht mehr als ein erfrischender Neubeginn, sondern als eine Erinnerung an etwas, das sie nicht mehr vollständig erleben kann.
Der letzte Abschnitt verstärkt die Entfremdung des Mädchens von der Welt um sie herum. Obwohl sie erkennt, dass der Frühling gekommen ist und der Mai da ist, fühlt sie, dass „die gleichen Lieder“ und „die gleichen Blumen“ nicht mehr dieselbe Bedeutung haben. Es ist alles „anders und neu“, aber der Frühling selbst scheint für sie bedeutungslos geworden zu sein. Diese Worte drücken eine tiefe Trauer aus, da die Veränderungen der Natur nicht mehr die Freude oder den Neuanfang auslösen, den sie früher mit dem Frühling verband. Es ist ein Gedicht über Verlust, Entfremdung und die Schwierigkeit, den Frühling in einer Welt zu empfinden, die durch die eigene innere Zerrissenheit verändert wurde.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.