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Am Grab des Bruders
Nach langem, langem Sehnen
An deinem Grab ich stand,
Nach vielen, bittren Tränen
Sah ich dies Stückchen Land,
Das Alles kalt bedecket,
Woran voll Zärtlichkeit,
Seit Leben ihm erwecket,
Das Kind hing allezeit!
Das Kind – o, Schmerz! ich habe
Dich anders nicht gekannt,
Stiegst jetzt du aus dem Grabe,
Du hättst mich kaum erkannt.
Doch wie ich so hier stehe,
Wird Eins mir wunderbar,
Trotz allem Schmerz und Wehe,
Im tiefsten Innern klar.
Zu früh mir hingeschwunden
Warst du mein Lebensstern,
Nach dem in allen Stunden
Ich sah zum Himmel gern;
Sein Strahl ward meine Leuchte,
Zog meinem Geist voran,
Zum Guten, Schönen zeigte,
Zur Wahrheit mir die Bahn.
Und dass in ewger Treue
Ihm stets gefolgt mein Herz,
Dass hier ich steh ohn Reue,
Dies sänftigt meinen Schmerz;
Dass tief mir im Gemüte
Dasselbe Feuer wacht,
Das deine Brust durchglühte
Mit seltner Liebesmacht.
So fühl ich mit Entzücken,
Stündst eben du vor mir,
Als Geistesschwester drücken
Würdst du ans Herz mich dir!
Die Hände segnend breiten
Auf meine Stirne bleich,
Mich wie in Kinderzeiten
Anlächeln mild und weich. –
Muss wieder von ihm gehen,
Dem schmerzlich teuren Ort,
Doch was mir dort geschehen,
Wirkt mutig in mir fort!
Dass so du in mir lebest
Für alle Ewigkeit,
Zum Höchsten mich erhebest –
Dies ist Unsterblichkeit!
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Am Grab des Bruders“ von Luise Büchner drückt tiefen Schmerz und gleichzeitig eine tröstliche Erkenntnis aus, die der Sprecherin beim Besuch des Grabes ihres Bruders zuteilwird. Zu Beginn beschreibt sie ihre emotionale Reise zum Grab, die von langem Sehnen und schmerzlichen Tränen begleitet ist. Das Bild des „Stückchens Landes“, das das Grab des Bruders bedeckt, wird als etwas wahrgenommen, das von der Zärtlichkeit des Lebens, das ihr Bruder einst verkörperte, zeugt. Der Verlust wird als eine tiefe, schmerzliche Erfahrung gezeigt, bei der die Liebe und Nähe zu dem Verstorbenen trotz der physischen Trennung weiterhin spürbar bleibt.
Im weiteren Verlauf des Gedichts tritt eine Wendung ein, als die Sprecherin, obwohl sie den Bruder nicht mehr so vorfindet, wie sie ihn gekannt hat, eine tiefere Einsicht gewinnt. Sie erkennt, dass ihre Trauer und ihr Schmerz eine Verbindung zum Verstorbenen aufrechterhalten, die über den physischen Tod hinausgeht. Der Bruder war für sie der „Lebensstern“, nach dem sie sich in allen Stunden sehnte und dessen Licht ihr „Leuchte“ und Orientierung bot. In dieser Erinnerung an die vergangene Zeit fühlt die Sprecherin eine unerschütterliche Liebe und eine unveränderte Verbindung zu ihm, die ihren Schmerz mildert.
Die Darstellung des „Lebenssterns“ und der „Leuchte“ zeigt den Bruder als eine Art moralisches und spirituelles Vorbild, das der Sprecherin den Weg zu einem besseren, schöneren und wahreren Leben gewiesen hat. Es wird betont, dass sie diesem idealen Bild des Bruders auch im Tod weiterhin treu bleibt. Die Erkenntnis, dass diese treue Bindung im „Herzen“ weiterlebt, ohne Reue oder Zweifel, gibt der Sprecherin eine gewisse Erlösung und Trost. Ihr Schmerz wird nicht einfach als Verlust verstanden, sondern als eine Bestätigung der ewigen Bindung und der anhaltenden Liebe, die über den Tod hinausgeht.
Im letzten Teil des Gedichts wird das Bild der wiedererwachten Nähe zum Bruder intensiviert, als die Sprecherin sich vorstellt, dass der Bruder als „Geistesschwester“ vor ihr stünde und sie, wie in „Kinderzeiten“, mit einer milden und liebevollen Geste umarmen würde. Diese Vorstellung von der Wiedervereinigung im Geist und die Vision von seiner „Liebesmacht“ sind für die Sprecherin eine Quelle der Erhebung. Der Verlust wird hier nicht als endgültig empfunden, sondern als eine Transformation der Beziehung, die im „inneren Feuer“ fortlebt.
Abschließend erklärt die Sprecherin, dass sie den Ort des Grabes verlässt, aber dass die Erfahrung, die sie dort gemacht hat, ihr Mut gibt und sie stärkt. Die Vorstellung, dass der Bruder in ihr weiterlebt und sie dadurch zu einem höheren, unsterblichen Zustand führt, bietet eine Art geistige und spirituelle Erlösung. Die Schlussfolgerung, dass diese fortwährende Verbindung zur verstorbenen Person eine Form der „Unsterblichkeit“ ist, hebt die zentrale Thematik des Gedichts hervor: den Glauben an die fortdauernde spirituelle Präsenz und die ewige Liebe, die den Tod überdauert.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.