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Die Stadt

Von

Er kam vom Hügel. Ein ferner Stern zog weiß
Die Straße zur Tiefe. Die Füße sprangen schnell,
Die Augen stachen durchs gelbgeballte Haar.
Die Nacht sprang aus der Erde, blau und leis.
Der weiße Stern stand weit, die Nacht lag hell.
Die Nacht zerriss den Stern zum weißen Paar,
Die Straße wich zurück in blauem Lauf,
Die Sterne zuckten hastig höher auf.
Ein Wind zog herüber, irr von Geschrei und heiß.

Er lief schon schwankend. Glückselig sah er sacht
Die Straße rollen rötlich zum silbernen Schein
Der riesigen Türme. Deren Lampen schwangen
Spielend mit den Ufern der blitzenden Nacht
An der Straße über verblassendem Stein.
Die Füße hoben sich zum Flug und sprangen.
Die Nacht wurde klein, die Straße raschelte still.
Da schossen die Lampen zur Höhe und rissen schrill
Die Türme in den dunklen, ungeheuren Schacht.

Dunkel von Röcken und Hüten schwankt eine Wand;
Nur ihm hing nackt das gelbe Haar ums Gesicht.
Das Schattengewühl der Menge zog zur Stadt.
Da rissen die Türme die Straße breit ins Licht,
Die Lampenaugen, ewig wach, zuckten matt
Über den Glanz der Hüte ins steinerne Land.
Geschrei der Menge lief um die steilen Flanken
Der dunklen Terrasse. Sie saßen lässig und tranken.
Da sah er zwischen den Türmen das Seil gespannt.

Ein nackter Schatten wiegte es. Er blieb stehn,
Die Menschen wichen schweigend zu den Seiten.
Er stand unterm Seil. Sie rückten die Hüte nicht.
Er sah die nackte Frau übers Seil hingleiten.
Er stand ohne Atem. Er sah hoch oben das Licht
Laufen über die hellen Schenkel und Zehn.
Zur Stadt hinter den Türmen drängte die Menge vorbei.
Ein Wind flog über die Mauer, heiß von Geschrei.
Niemand im schwarzen Gewühl hatte aufwärts gesehn.

Die Augen der Lampen zuckten über die Frau.
Das Seil schwankte kreisend, als sie schnell sprang.
Sie war ernst, hoch oben. Ein Turmlicht zischte weiß,
Sie lächelte im Sprung zur Seite, wo es sang.
Das Turmlicht drückte ihr Haar im Schattenkreis
Hell auf die Nacht. Das Licht reckte sich lau
Zum blonden Stern des Bauchs. Ein Schattengürtel band
Sich schmal um sie. Flog hinauf. Verschwand.
Sie bückte sich und hob die Arme ins Blau.

Sie sprang ernst. Sie sah ihn und lächelte leer.
Die Menschen liefen zur Stadt durch die Mäuler der Steine.
Er stand im Gewühl ohne Atem. Das Turmlicht pfiff.
Über den steilen Glanz ihrer tanzenden Beine
Rannen siedende Blasen des Lichts hin und her –
Als sie plötzlich ins blaue Luftlicht griff.
Sie schwankt schon grinsend. Zur Nacht hinauf krallen
Zwei Falten. Aber niemand bleibt stehn. Sie muss fallen!
Der helle Stern ihres Bauchs zittert so sehr.

Die Häuser taumeln. Blass steigt ein weiter Kreis
Von bleichen Mauern auf im grünlichen Schein. –
Die Lampenaugen, ewig wach, zuckten matt
Über blaue Terrassen. Die Straßen raschelten leis.
Im Schattengewühl der Menge stand er klein.
Er lief klein und wild. Die Nacht sprang aus der Stadt.
Er lief über den Hügel. Die Nacht lag hell.
Fern stand ein weißer Stern. Die Füße sprangen schnell.
Ein Wind zog herüber, bunt von Geschrei und heiß.

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Gedicht: Die Stadt von Ludwig Rubiner

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Stadt“ von Ludwig Rubiner entfaltet eine intensive, expressionistische Großstadtvision, in der Bewegung, Licht und Lärm zu zentralen Sinneseindrücken werden. Es schildert die Ankunft eines Einzelnen in der Stadt, seine Faszination, seine Überwältigung durch das urbane Chaos und schließlich eine dramatische Szene, die in den Absturz einer Seiltänzerin mündet. Die Stadt erscheint hier als faszinierendes, aber auch bedrohliches Kraftfeld.

Rubiner arbeitet stark mit dynamischen Bildern: Die Straße scheint zu „rollen“, die Türme „reißen“ sich ins Licht, die Menschen „schwanken“. Bewegung und Geschwindigkeit bestimmen den Rhythmus des Gedichts. Besonders auffällig ist die Verbindung von Licht und Dunkelheit: Sterne, Lampen und Turmlichter blitzen auf, zucken, tauchen auf und verschwinden wieder, was ein flirrendes, fast fiebriges Bild der Großstadtnacht zeichnet.

Zentral ist die Szene der Seiltänzerin: Ihr Tanz hoch über der Menge wird zu einem Bild existenzieller Einsamkeit und Gefährdung. Während die Masse achtlos an ihr vorbeizieht, nimmt das lyrische Ich sie intensiv wahr. Ihr Absturz deutet auf die Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz in einer anonymen, gleichgültigen Masse hin. Ihr „heller Stern“ – ihr Körper, ihre Lebenskraft – zittert und verglüht letztlich, ohne dass es die Menge berührt.

Insgesamt thematisiert „Die Stadt“ die Entfremdung des Einzelnen in der modernen Großstadt, die Faszination durch Technik und Bewegung, aber auch die Verlorenheit und existenzielle Bedrohung. Rubiners expressionistische Bildsprache mit ihren grellen Lichtern, schnellen Bewegungen und emotionalen Übersteigerungen macht diese widersprüchlichen Eindrücke eindrucksvoll erfahrbar. Möchtest du noch eine kurze Deutung, wie Rubiner die Masse und das Individuum gegenüberstellt?

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.