Leiferde
Wir leben ganz im Dunkeln,
Uns blühen nicht Ranunkeln
Und Mädchen glühn uns nicht.
Wir sind von Gott verworfen
Und unter Schmutz und Schorfen
Ist unsre Brust mit Schwefel ausgepicht.
Der Rucksack, der ist leer,
Das Hirn von Plänen schwer,
Mit uns will′s niemand wagen.
Wir finden Stell′ und Arbeit nicht,
Der Hunger wie mit Messern sticht
Den Magen.
Wir sind dahingezogen
Durch Not und Kot und Dreck.
Der Wind hat uns verbogen,
Das Leben uns belogen,
Die Menschheit warf uns weg.
Wir wateten im Schlamm,
Wir kamen an den Damm,
Ein Zug flog hell vorüber,
Ach, niemand rief: Hol über!
Hol über!
Es tranken Kavaliere
Im Speisewagen Mumm.
Wir sind nicht einmal Tiere,
Uns wandern Herz und Niere
Ziellos im Leib herum.
Den Klotz nun auf die Schienen,
Der Qualen ist′s genug,
Bald kommt der nächste Zug,
Wir wollen was verdienen
– Und sei′s auch nur das Hochgericht.
Wenn wir im Äther baumeln
Und zu den Sternen taumeln,
Sehn wir zum erstenmal das Licht –
Das Licht.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „Leiferde“ von Klabund zeichnet ein düsteres Bild des Elends und der Verzweiflung. Es ist ein erschütterndes Zeugnis der sozialen Ausgrenzung und der Hoffnungslosigkeit in einer von Armut und Ungerechtigkeit geprägten Welt. Die Sprache ist direkt und ungeschönt, was die emotionale Wucht des Gedichts noch verstärkt. Die Verwendung von Bildern wie „Dunkeln“, „Schmutz und Schorfen“ und „Schlamm“ unterstreicht die physische und metaphorische Verelendung der Protagonisten.
Das Gedicht beschreibt das Leben der Ausgestoßenen, die von der Gesellschaft vergessen und abgelehnt wurden. Sie erfahren Ablehnung in allen Bereichen ihres Lebens – von der Suche nach Arbeit und Liebe bis hin zur einfachsten menschlichen Zuwendung. Der „Rucksack, der ist leer“ und „das Hirn von Plänen schwer“ verdeutlichen die innere Zerrissenheit und die Last der vergeblichen Träume. Die Zeile „Der Hunger wie mit Messern sticht / Den Magen“ ist ein eindringliches Bild des körperlichen Leids. Der Refrain „Hol über!“ drückt die Sehnsucht nach Erlösung und dem Wunsch nach einem besseren Leben aus, bleibt aber unbeantwortet.
Die Metapher des Zuges, der vorbeifährt, während die Protagonisten am Ufer stehen, verstärkt das Gefühl der Isolation und des Scheiterns. Die Kavaliere im Speisewagen, die „Mumm“ trinken, stehen im krassen Gegensatz zu dem Elend der Ausgestoßenen und symbolisieren die Ungleichheit und das soziale Gefälle. Der Wunsch nach dem Tod als einziger Ausweg gipfelt in dem makabren Finale, in dem sie den Entschluss fassen, sich vor einen Zug zu werfen. Die Ironie liegt darin, dass erst im Tod, im „Äther“, das ersehnte „Licht“ erblickt wird.
Das Gedicht ist eine bittere Anklage an die soziale Ungerechtigkeit und die Sinnlosigkeit des Lebens unter solchen Umständen. Es ist ein Appell für mehr Mitgefühl und Verständnis, aber auch eine Mahnung an die Leser, die Augen nicht vor dem Leid der anderen zu verschließen. Klabund gelingt es, mit wenigen, aber kraftvollen Worten ein eindringliches Bild des menschlichen Elends zu zeichnen und zum Nachdenken anzuregen.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.