Logo der Website, Schriftzug "Poesie Oase" mit Palmen umrandet.
, , , , , , ,

Die Gefangenen

Von

Hörst du sie schlucken, Herrgott?
Sie sitzen muffig riechend und essen ein muffiges Essen,
holen es mit dem Blechlöffel aus den amtlichen Gefäßen
und führen es in ihren privaten Mund.
Der Körper verdaut es,
und es ist ganz sinnlos, was sie da tun.
Hörst du sie schlucken, Herrgott?

Siehst du sie im Hof trotten, Herrgott?
Man bewegt sie wie die Pferde, damit sie nicht frühzeitig
sterben –
sie sollen leidensfähig erhalten werden,
und im Schubkasten des Gefängnispastors liegt eine Bibel.
Daraus liest er ihnen von Zeit zu Zeit etwas vor und glaubt
wirklich,
er sei besser als sie.
Siehst du sie in ihrer Kirche sitzen, Herrgott?
Fühlst du sie leiden?
Nachts bedrängen sie wüste Träume;
ihre innere Sekretion ist nicht in Ordnung,
sie sehen riesige Geschlechtsteile auf Beinen
und zupfen an sich herum…
Fühlst du sie leiden?

Ja, sie haben gefehlt – das ist wahr.
Doch kann kein Mensch den andern bestrafen, er kann ihn nur
quälen.
Denn Schuld und Strafe kommen niemals zusammen.
Ja, sie haben gefehlt, das ist wahr.
Da sitzen sie und leiden:
Weil sie gestohlen haben;
weil ihre Eltern nur einen verwüsteten Körper zeugen
konnten;
weil sie in Spanien eine Republik haben wollten;
weil sie Stalins Politik nicht billigen;
weil sie den Duce nicht lieben;
weil sie in Amerika Gewerkschaften gründen
wollten…
Sie sind Späne des irdischen Sägewerks.
Die Gerechten können nicht sein, wenn die Ungerechten nicht
wären.
Ja, sie haben gefehlt – das ist wahr.

Und so ist es eingeteilt:
Sie haben gesündigt.
Andre haben sie verurteilt.
Wieder andre vollstrecken das Urteil.
Was haben diese drei Dinge miteinander zu tun?

Gott, du siehst es -!
Erbarme, erbarme dich der Gefangenen!
Der Mensch, der da richtet, erbarmt sich nicht.
Man müsste ihn quälen, wiederum,
und wiederum wäre nichts damit getan.
Hörst du sie, siehst du sie, fühlst du sie,
die Gefangenen -?

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Die Gefangenen von Kurt Tucholsky

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Die Gefangenen“ von Kurt Tucholsky ist ein eindringlicher, klagender Appell an ein höheres moralisches Bewusstsein – verkörpert in der wiederkehrenden Anrufung „Herrgott“ – angesichts der entmenschlichenden Realität des Strafvollzugs. In einer Mischung aus nüchterner Beschreibung und sarkastischer Schärfe stellt Tucholsky das Gefängnis als Ort systematischer Demütigung und moralischer Gleichgültigkeit dar.

Schon zu Beginn hebt der Dichter das Alltägliche – das Essen, das Trotten im Hof – hervor, um die absurde Banalität der Haft zu entlarven. Diese Handlungen erscheinen sinnlos, mechanisch, ohne jede Würde. Der Spott auf die Gefängniskirche und den Pastor, der aus der Bibel liest, entlarvt religiöse Praktiken als Teil eines Systems, das sich selbst moralisch rechtfertigt, während es Leid erzeugt. Die Ironie wird dabei zum Mittel der Anklage: Tucholsky kritisiert nicht nur die Haftbedingungen, sondern die gesamte Logik von Schuld und Strafe.

Besonders stark ist der Gedankengang, dass kein Mensch einen anderen wirklich bestrafen kann – nur quälen. Die Vorstellung einer gerechten Strafe wird grundsätzlich in Frage gestellt, indem die Ursachen für das „Fehlverhalten“ der Inhaftierten benannt werden: soziale Herkunft, politische Überzeugung, Not. Die Liste dieser Gründe weitet den Blick vom individuellen Fehltritt auf gesellschaftliche Missstände. Damit rückt Tucholsky die Gefangenen aus dem Schatten moralischer Verurteilung in ein neues Licht – sie erscheinen als Opfer eines Systems, das zwischen Schuld, Urteil und Vollstreckung keine echte Verbindung schafft.

Die wiederholte Anrede an Gott unterstreicht die emotionale Dringlichkeit des Gedichts. Doch während sich das lyrische Ich an eine höhere Instanz wendet, wird zugleich die Hilflosigkeit des Einzelnen angesichts institutionalisierter Grausamkeit deutlich. Die letzten Verse verdichten die zentrale Aussage: Die Welt ist ungerecht eingerichtet, und der Mensch, der richtet, hat selbst kein Recht dazu. Tucholskys Gedicht ist damit nicht nur ein Appell an Mitgefühl, sondern ein radikales Infragestellen der moralischen Fundamente von Strafe und Macht.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.