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Vergleichende Erotik

Von

So wird das Wunderbild der Venus fertig:
Ich nehme hier ein Aug, dort einen Mund,
hier eine Nase, dort der Brauen Rund.
Es wird Vergangenes mir gegenwärtig.

Hier weht ein Duft, der längst verweht und weit,
hier klingt ein Ton, der längst im Grab verklungen.
Und leben wird durch meine Lebenszeit
das Venusbild, das meinem Kopf entsprungen.

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Gedicht: Vergleichende Erotik von Karl Kraus

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Vergleichende Erotik“ von Karl Kraus behandelt auf poetische Weise die Konstruktion von Schönheit und Verlangen sowie die Unfähigkeit, das Vergangene vollständig zu fassen oder wiederzugeben. Der Erzähler erschafft das „Wunderbild der Venus“, indem er verschiedene Körperteile – ein Auge, einen Mund, eine Nase – zusammenfügt. Diese Zusammenstellung von Einzelteilen zu einem Bild spiegelt die Art und Weise wider, wie Menschen oft Idealbilder von Schönheit und Erotik konstruieren. Die Venus, als klassische Figur der Schönheit, wird nicht in ihrer ursprünglichen, unveränderten Form dargestellt, sondern als etwas, das aus fragmentierten und selektiven Wahrnehmungen und Erinnerungen zusammengesetzt wird.

Die Zeilen „Hier weht ein Duft, der längst verweht und weit, / hier klingt ein Ton, der längst im Grab verklungen“ weisen auf die Vergänglichkeit und den Verlust von Sinneseindrücken hin. Der Duft und der Ton sind nicht mehr direkt erlebbar, sondern nur noch als Erinnerung oder Vorstellung vorhanden. Diese Erinnerung ist jedoch nicht vollständig, sondern bleibt unvollständig und ungreifbar. Das Gedicht stellt fest, dass alle sinnlichen Erfahrungen, die in der Vergangenheit liegen, unausweichlich verblassen und nur in fragmentierten, oft idealisierten Bildern im Kopf weiterexistieren.

„Und leben wird durch meine Lebenszeit / das Venusbild, das meinem Kopf entsprungen“ – hier wird deutlich, dass der Erzähler das Bild der Venus nicht nur als eine Erinnerung oder ein Ideal betrachtet, sondern dass er es auch aktiv formt. Das Bild, das in seinem Kopf entsteht, ist lebendig, weil es von ihm selbst erschaffen wird. Es lebt durch seine subjektive Wahrnehmung und Erinnerung. Dieser Akt des Schaffens verdeutlicht, dass Schönheit und Erotik nicht objektiv sind, sondern durch individuelle Vorstellungen und Erfahrungen geprägt werden. Es ist eine fortwährende Konstruktion, die der Erzähler mit seiner eigenen Wahrnehmung und seinem eigenen Kopf vorantreibt.

Insgesamt zeigt das Gedicht von Kraus, wie der menschliche Geist Schönheit und Erotik aus Fragmenten der Vergangenheit zusammenfügt, die unweigerlich unvollständig sind. Es reflektiert den Akt der Erinnerung und der Idealisierung, der das Bild der Venus, das für den Erzähler entsteht, formt und belebt. Doch gleichzeitig wird der Verlust und die Vergänglichkeit der Vergangenheit thematisiert, die nur als flüchtige Erinnerungen im Kopf des Einzelnen weiterleben.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.