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Der Zeuge

Von

Fluch, Kaiser, dir! Ich spüre deine Hand,
an ihr ist Gift und Nacht und Vaterland!
Sie riecht nach Pest und allem Untergang.
Dein Blick ist Galgen und dein Bart der Strang!
Dein Lachen Lüge und dein Hochmut Haß,
dein Zorn ist deiner Kleinheit Übermaß,
der alle Grenze, alles Maß verrückt,
um groß zu sein, wenn er die Welt zerstückt.
Vom Rhein erschüttert ward sie bis zum Ganges
durch einen Heldenspieler zweiten Ranges!
Der alten Welt warst du doch kein Erhalter,
gabst du ihr Plunder aus dem Mittelalter.
Verödet wurde ihre Phantasie
von einem ritterlichen Weltkommis!
Nahmst ihr das Blut aus ihren besten Adern
mit deinen Meer- und Luft- und Wortgeschwadern.
Nie würde sie aus Dreck und Feuer geboren!
Mit deinem Gott hast du die Schlacht verloren!
Die offenbarte Welt, so aufgemacht,
von deinem Wahn um ihren Sinn gebracht,
so zugemacht, ist sie nur Fertigware,
mit der der Teufel zu der Hölle fahre!
Von Gottes Zorn und nicht von seinen Gnaden,
regierst du sie zu Rauch und Schwefelschwaden.
Rüstzeug des Herrn! Wir werde ihn erst preisen,
wirft es dich endlich zu dem alten Eisen!
Komm her und sieh, wie sich ein Stern gebiert,
wenn man die Zeit mit Munition regiert!
Laß deinen Kanzler, deine Diplomaten
durch dieses Meer von Blut und Tränen waten!
Fluch, Kaiser, dir und Fluch auch deiner Brut,
hinreichend Blut, ertränk sie in der Flut!
Ich sterbe, einer deutschen Mutter Sohn.
Doch zeug‘ ich gegen dich vor Gottes Thron!

Gedicht als Bild, zum Downloaden und Teilen

Gedicht: Der Zeuge von Karl Kraus

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der Zeuge“ von Karl Kraus ist eine leidenschaftliche, bitterböse Anklage gegen Kaiser Wilhelm II. und das deutsche Kaiserreich im Kontext des Ersten Weltkriegs. In hasserfüllter, fast apokalyptischer Sprache klagt das lyrische Ich den Monarchen an, Mitverantwortung für die globale Katastrophe zu tragen. Das Gedicht ist zugleich eine politische Abrechnung und ein moralisches Testament – gesprochen aus der Perspektive eines Toten, der „vor Gottes Thron“ Zeugnis gegen seinen Kaiser ablegen will.

Bereits der erste Vers – „Fluch, Kaiser, dir!“ – gibt den Ton an: unversöhnlich, direkt und ohne jede Distanz. Die Sprache ist drastisch, bildgewaltig und durchzogen von giftiger Ironie. Der Kaiser wird entmenschlicht und dämonisiert: seine Hand „riecht nach Pest“, sein Blick wird zum „Galgen“, sein Bart zum „Strang“. Die Metaphern steigern sich ins Groteske, um die zerstörerische Wirkung seiner Herrschaft zu verdeutlichen. Der Zorn des Kaisers wird als Ausdruck von Kleinheit, sein Hochmut als Fratze von Hass entlarvt.

Besonders scharf ist die Kritik an der ideologischen Rückwärtsgewandtheit des Kaisers, der die Welt mit „Plunder aus dem Mittelalter“ überzieht und sie in ein ritterlich-reaktionäres Zerrbild verwandelt. Kraus beklagt den Verlust von Fantasie, Leben und Sinn – ersetzt durch nationalistische Phrasen und kriegerische Aufrüstung („Meer- und Luft- und Wortgeschwader“). Die Welt wird nicht erneuert, sondern verheert, nicht durch Fortschritt, sondern durch Wahn. Die Vernichtung wird nicht verhüllt, sondern explizit benannt: „Dreck und Feuer“, „Rauch und Schwefelschwaden“.

Im letzten Teil des Gedichts wird die Anklage endgültig zur prophetischen Vision: Der Kaiser soll „zu dem alten Eisen“ geworfen werden, das Kriegsmaterial wird zum „Rüstzeug des Herrn“ in einem göttlichen Gericht. Dabei bleibt die Sprache wütend, grell und voller Pathos – das „Meer von Blut und Tränen“ ist Sinnbild einer Welt, die im Krieg versinkt. Doch das lyrische Ich behält sich das letzte Wort – es stirbt nicht sinnlos, sondern als Zeuge gegen das verbrecherische Regime. Der Tod wird zur letzten Instanz der Gerechtigkeit.

„Der Zeuge“ ist ein Gedicht von tiefer moralischer Empörung und sprachlicher Wucht. Karl Kraus gelingt es, die Grauen des Krieges und die Schuld der politischen und militärischen Eliten in eine erschütternde dichterische Form zu bringen. Der Text ist keine still-meditative Lyrik, sondern ein Aufschrei – zornig, anklagend, prophetisch.

Weitere Informationen

Hier finden sich noch weitere Informationen zu diesem Gedicht und der Seite.

Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.