An den Schatten der Annie Kalmar
In tiefer Schuld vor einem Augenpaar,
worin ich schuf, was darin immer war,
geschaffen, kund zu tun, was es nicht weiß,
dem Himmel hilft es, macht der Hölle heiß.
In tiefer Ehrerbietung dem Gesicht,
das, Besseres verschweigend als es spricht,
Ein Licht zurückstrahlt, das es nie erhellt,
der Welt geopfert, zaubert eine Welt.
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Kurze Interpretation des Gedichts
Das Gedicht „An den Schatten der Annie Kalmar“ von Karl Kraus ist eine komplexe und tiefgründige Reflexion über Schuld, Ehrerbietung und die Beziehung zwischen einem Individuum und einem idealisierten Bild oder einer geliebten Person. In der ersten Strophe beschreibt der Sprecher eine tiefe Schuld vor einem „Augenpaar“, das ihm vor Augen führt, was er erschaffen hat. Das „Augenpaar“ wird als Symbol für das Gesicht eines Menschen verwendet, dessen Blick und Wahrnehmung von Bedeutung sind. Die Schaffung von „etwas, was darin immer war“, deutet darauf hin, dass der Sprecher versucht, etwas zu manifestieren, das eigentlich schon existierte – möglicherweise ein Ideal oder eine Wahrheit, die dem Blick des anderen entgeht. Die Metapher „dem Himmel hilft es, macht der Hölle heiß“ spielt auf den dualen Charakter menschlicher Handlungen und die Unwägbarkeiten moralischer Entscheidungen an, die sowohl gutes als auch schlechtes hervorbringen können.
Die zweite Strophe geht weiter auf die Beziehung zwischen dem Sprecher und der Person, die er anspricht, ein. Die „Ehrerbietung“ vor dem „Gesicht“, das „Besseres verschweigend als es spricht“, deutet darauf hin, dass der Sprecher der Person etwas opfert oder ihr in einer Form der unbedingten Verehrung begegnet, ohne dass die wahre Bedeutung oder das wahre Wesen der Person vollständig preisgegeben wird. Es scheint, als würde die Person ein Licht reflektieren, das sie selbst nie vollständig in sich trägt. Dies könnte ein Hinweis auf die Projektion von Idealen oder Erwartungen auf eine andere Person sein – der Sprecher sieht in der anderen Person etwas, was sie vielleicht selbst nicht erkennt oder nicht vollständig verkörpert.
„Der Welt geopfert, zaubert eine Welt“ könnte als eine kritische Bemerkung über die Opfer verstanden werden, die der Sprecher für die Wahrnehmung und das Bild einer anderen Person bringt, und wie dieses Bild oder Ideal eine neue, von ihm erschaffene „Welt“ schafft. Die Welt, die er zaubert, ist möglicherweise eine Welt der Illusionen oder der verzerrten Realität, in der die wahre Essenz der Person nicht vollständig zur Geltung kommt. Das Gedicht spricht von der Ambivalenz und den Gefühlen der Schuld und Verehrung, die entstehen, wenn man sich in einem Bild oder Ideal einer anderen Person verliert und die Realität oder die Unvollkommenheit dieser Person nicht mehr sehen kann.
Kraus verwendet hier eine symbolische und tiefgründige Sprache, um die Komplexität menschlicher Beziehungen, insbesondere derjenigen zwischen Verehrung und Enttäuschung, zu erfassen. Das Gedicht thematisiert das Spannungsverhältnis zwischen der inneren Wahrnehmung und der äußeren Darstellung von Menschen, die als idealisiert und von der eigenen Schuld und Projektion geprägt dargestellt werden. Es stellt die Frage nach der Wahrheit hinter den Bildern und Idealen, die wir von anderen und von uns selbst erschaffen.
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Lizenz und Verwendung
Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.