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Der Riese

Von

Es saß ein Mann gefangen
Auf einem hohen Turm,
Die Wetterfähnlein klangen
Gar seltsam in den Sturm.

Und draußen hört‘ er ringen
Verworrner Ströme Gang,
Dazwischen Vöglein singen
Und heller Waffen Klang.

Ein Liedlein scholl gar lustig:
Heisa, solang Gott will!
Und wilder Menge Tosen;
Dann wieder totenstill.

So tausend Stimmen irren,
Wie Wind‘ im Meere gehn,
Sich teilen und verwirren,
Er konnte nichts verstehn.

Doch spürt‘ er, wer ihn grüße,
Mit Schaudern und mit Lust,
Es rührt‘ ihm wie ein Riese
Das Leben an die Brust.

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Gedicht: Der Riese von Joseph von Eichendorff

Kurze Interpretation des Gedichts

Das Gedicht „Der Riese“ von Joseph von Eichendorff beschreibt die innere Zerrissenheit und die Unverständlichkeit einer Welt, die der Sprecher aus seiner Gefangenschaft heraus wahrnimmt. Der Mann sitzt „auf einem hohen Turm“, der ihn von der Welt und ihren Geschehnissen trennt, was metaphorisch für die Isolation oder Entfremdung steht, die er empfindet. Der „hohe Turm“ stellt ein Bild für Distanz und Abgeschlossenheit dar, während der „seltsame Klang der Wetterfähnlein“ die chaotischen und unvorhersehbaren äußeren Umstände widerspiegelt, die der Sprecher nicht begreifen kann. Die Stürme und die Geräusche um ihn herum verleihen der Szenerie eine bedrückende und fast surreale Qualität.

In der zweiten Strophe hört der Gefangene das „Ringen“ der Ströme und das Singen der Vögel, aber auch den „Klang von Waffen“ und das „Tosen“ der Menschen. Dieses Bild verweist auf die Konflikte und Spannungen der Welt, die der Sprecher aus der Ferne wahrnimmt, ohne sie wirklich zu verstehen. Das Hin- und Hergerissene zwischen verschiedenen Stimmen und Geräuschen – das „Lustige“ und das „Totenstille“ – spiegelt die innere Zerrissenheit des Sprechers wider, der sich mit der Widersprüchlichkeit und den unklaren Bedeutungen der Welt konfrontiert sieht. Die „tausend Stimmen“, die sich teilen und verwirren, erzeugen das Bild einer chaotischen Welt, in der nichts klar und eindeutig ist.

Der Sprecher versucht, die Geräusche und Stimmen zu verstehen, doch sie bleiben unklar und unverständlich. Diese Verwirrung wird durch das Bild des „Windes im Meer“ verstärkt, der „geht“ und sich „teilt“, ohne dass der Sprecher in der Lage ist, einen klaren Sinn oder eine Richtung zu erkennen. In diesem Moment der Unsicherheit fühlt sich der Mann wie ein außenstehender Beobachter, der von der Welt um ihn herum entfremdet ist und die vielfältigen Eindrücke nicht in ein kohärentes Ganzes fassen kann. Doch trotz dieser Verwirrung und des Chaos spürt der Mann eine starke, fast überwältigende Präsenz – den „Riesen“, der „das Leben an die Brust“ rührt.

Das Bild des „Riesen“ stellt eine übermächtige, vielleicht bedrohliche, aber auch faszinierende Kraft dar, die auf den Sprecher einwirkt. Der Riese könnte als Symbol für das Leben selbst oder für eine höhere Macht verstanden werden, die ihn trotz seiner Gefangenschaft und Entfremdung erreicht. Diese Begegnung mit der Lebensenergie oder dem Schicksal bringt eine Mischung aus „Schaudern und Lust“ hervor, was darauf hinweist, dass der Sprecher einerseits von der Intensität des Lebens überwältigt ist, andererseits aber auch eine tiefere Sehnsucht nach Bedeutung und Zugehörigkeit empfindet. Der „Riese“ könnte also als Metapher für die unverständlichen, aber zugleich faszinierenden Kräfte des Lebens und der Welt stehen, die der Sprecher nur vage erfassen kann, aber dennoch nicht loslassen kann.

Eichendorff verwendet in diesem Gedicht Bilder von Gefangenschaft, Verwirrung und übermächtigen Kräften, um die existenzielle Spannung zwischen dem Einzelnen und der Welt darzustellen. Das Gedicht drückt eine tiefe Auseinandersetzung mit der Unverständlichkeit und Komplexität des Lebens aus, in dem der Sprecher nach einer höheren Bedeutung oder einem klareren Verständnis sucht, aber dennoch von den Widersprüchen und der Unordnung der Welt um ihn herum überwältigt wird. Der „Riese“ steht dabei als Symbol für die rätselhaften Kräfte, die das Leben bestimmen, und die gleichzeitig faszinierend und erschreckend sind.

Weitere Informationen

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Lizenz und Verwendung

Dieses Gedicht fällt unter die „public domain“ oder Gemeinfreiheit. Gemeinfreiheit bedeutet, dass ein Werk nicht (mehr) durch Urheberrechte geschützt ist und daher von allen ohne Erlaubnis des Urhebers frei genutzt, vervielfältigt und verbreitet werden darf. Sie tritt meist nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist ein, z. B. 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Weitere Informationen dazu finden sich hier.